"Wo soll dieses Land hin?"

■ Interview mit Jürgen Schrempp, dem Vorstandsvorsitzenden der Dasa und Vorstand im Daimler-Benz-Konzern, über Wirtschaft und Politik im deutsch-japanischen Vergleich

taz: Deutschland befindet sich 1993 in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der meisten deutschen Unternehmen ist angeschlagen, der soziale Konsens gefährdet. Reagieren Politik und Wirtschaft angemessen auf die neue Lage?

Schrempp: Uns fehlt eine neue Dimension im Dialog zwischen Politik und Industrie. Ziel eines solchen Dialogs muß eine Industriepolitik im Sinne der Konsensfindung zwischen Politik und Wirtschaft sein, zum Bespiel beim Festlegen von Rahmenbedingungen. Dergleich angelegte Initiativen in Niedersachsen und Baden-Württemberg muß man positiv notieren. Denn es wäre höchste Zeit, daß sich Politiker, Unternehmer und Gewerkschafter an einen Tisch setzen und fragen: Wo soll dieses Land eigentlich hin?

Die Bundesregierung hat bisher auf eine innovative Industriepolitik verzichtet. Gibt es für Ihre Vorstellungen Modelle in Japan?

Mein Eindruck ist, daß es in Japan gelingt, im Rahmen einer manchmal schwierigen Konsensfindung letztendlich eine Entscheidung zu treffen, die langfristiger Natur ist und anschließend von allen Beteiligten befolgt wird. Das gelingt uns in Europa nur selten. Nach langer gesellschaftspolitischer Diskussion hatten wir uns in den achtziger Jahren für die bemannte Raumfahrt entschieden. Heute wird das wieder in Frage gestellt. Gerade in meinem Bereich, der Luft- und Raumfahrt, brauchen wir Zuverlässigkeit und Planungssicherheit. Es ist bei uns nicht sinnvoll, die Politik von Jahr zu Jahr zu korrigieren. Der einmal gewählte Rahmen muß eingehalten werden. Gerade das scheint mir in Japan besser zu funktionieren.

Auf der S-Bahn-Fahrt hierher nach Ottobrunn saß ich neben einem langjährigen MBB-Verwaltungsangestellten, der nach der Konzernumbildung zu ihrem Dienstleistungsunternehmen Debis übergewechselt ist. Der Mann war Mitte vierzig, hatte drei Kinder und erzählte von sich aus, er führe heute Toyota. Mit seinem Unternehmen Daimler-Benz könne er sich nicht mehr identifizieren. Das Management ignoriere die Bedenken der Angestellten. In Japan ist eine solche Reaktion vom Mitarbeiter eines großen Betriebes fast undenkbar.

Die Japaner verstehen besser als wir, daß 50 Prozent der Leistungsfähigkeit und Flexibilität eines Unternehmens mehr in Bauch und Herz als im Gehirn seiner Mitarbeiter stecken. Meist liegt unser Fehler im Management darin, zu rational an die Themen heranzugehen. In der Deutschen Aerospace haben wir jetzt einen Mobilisierungsprozeß im Unternehmen eingeleitet. Der besteht aus vielen Workshops und einem strategischen Dialog zwischen Management und leitenden Mitarbeitern mit Präsenzpflicht des gesamten Vorstands. Wenn wir im Management eine Problemstellung definiert haben, müssen wir zu den Arbeitern gehen und sagen: „Das ist unser Problem. Geht selbst damit um und findet eine Lösung.“

Sehen Sie den deutschen Arbeiter und den deutschen Manager gleichermaßen in der Krise?

1993 wird unserer Voraussicht nach das wirtschaftlich schwierigste Jahr seit der unmittelbaren Nachkriegszeit sein. Darauf ist in Deutschland offenbar keiner richtig vorbereitet. Es gibt deshalb eine unglaublich große Unsicherheit der Menschen im Unternehmen. Die Umbrüche und Strukturveränderungen haben auch die Manager unvorbereitet getroffen. Man hat in Deutschland geglaubt, auf der berühmten Pyramide eine Ebene für immer erreicht zu haben – und plötzlich bricht man ein.

Erst kürzlich haben japanische Manager in einer solchen Situation auf ihre Art den Weg gewiesen: indem sie nämlich ihre Gehälter als erste und prozentual am stärksten kürzten. Damit schufen sie das nötige Vertrauen der Arbeiter in ihre Sparpläne. Weshalb geht den deutschen Unternehmensführern eine derartige Vorbildfunktion offenbar verloren?

Wir haben als Manager in der Tat kein gutes Standing. Das Sozialprestige der Unternehmensführer in Deutschland steht weit unten. Das mag daran liegen, daß niemand in den wirtschaftlich guten Jahren die Gewinnrezepte seines Unternehmens ändern wollte. „You can't beat success“, sagen die Engländer. Doch diese Zeiten sind vorbei. Früher hat man das Unternehmen im Gremium des Vorstands geführt, mehr oder weniger gut vorbereitete Entscheidungen getroffen, die Maschinen gekauft und die Sache umgesetzt. Heute haben wir als Top-Führungskräfte gelernt, in den Prozeß des Denkens und der Lösungsfindung im Unternehmen hineinzugehen. Natürlich machen das noch nicht alle.

Noch einmal zu den Managergehältern. In den USA verdienen Spitzenleute in Ihrer Position durchschnittlich das 150fache des Lohns ihrer Fabrikarbeiter, in Japan durchschnittlich nur das 30fache. Die Zahlen für Deutschland liegen irgendwo dazwischen.

In den USA gibt es da sicherlich Besonderheiten und in Deutschland Ausreißer. Sicher kann man auch über den Faktor zehn oder zwanzig streiten. Aber der Preis eines Managers wird durch Angebot und Nachfrage geregelt. Das muß so bleiben.

Können wir es uns wirklich noch leisten, die japanischen Verhältnisse als kulturell anders auszusortieren, wenn deutsche und japanische Unternehmen in fast allen Produktbereichen direkt miteinander konkurrieren?

Es wird sicherlich zu vieles über die Kultur abgetan. Wir müssen von Japan lernen, aber wir dürfen Japan nicht kopieren. Wir müssen uns anschauen, wie die Japaner vorgehen, und es dann besser machen.

Nicht wenige Industrielle meinen, daß sich solche Ziele der Arbeiterschaft nicht mehr erklären lassen. Sie würde dann nur mit Haßgefühlen gegenüber den Japanern reagieren.

Diese Auseinandersetzung muß mit allen geführt werden. Die Arbeiter von heute sind mündige Bürger, keine Roboter. Man muß mit ihnen über alles diskutieren. Wenn wir allerdings bis auf die Arbeiterschaft heruntergehen, dürfen wir nicht sagen: „Paßt auf, Leute! Bis Freitag sind wir in die falsche Richtung marschiert. Inzwischen haben wir das in Japan studiert. Die haben Erfolg. Ab Montag machen wir's – wegen Japan, wegen deren Erfolg – genauso wie die.“ Das kann man getrost vergessen. Wir müssen vielmehr die neuen Methoden sanft einführen. Beim sehr viel größeren Eingehen japanischer Führungskräfte auf die Mitarbeiter im Unternehmen fängt das Lernen ja an.

Noch kein deutscher Unternehmer aber hat seinen Arbeitern offen erklärt, welche Entwicklungen in Japan seine Firma verschlafen hat. Auch nicht Edzard Reuter.

Es gibt ein Problem dabei: Das ist die Angst vor der Verschlechterung der Lebensqualität und vor langen Arbeitszeiten. Bei uns ist die Denkweise weit verbreitet, daß die Lebensqualität in der Bundesrepublik sehr viel besser ist.

Dabei liegt Japan in der UN- Rangliste für Lebensqualität weit vor Deutschland...

Dann aber müssen wir einen Schritt weiter gehen nach Korea oder Taiwan, wo das Lohnverhältnis zu Deutschland plötzlich nur noch 20 Prozent beträgt. Wo noch mehr gearbeitet wird als in Japan. Das gleiche wird in Zukunft auch für Osteuropa gelten, wo wir die Billiglohnländer erstmals vor unser Haustür haben. Damit stellt sich uns die unglaublich schwierige Frage, ob es zwischen Deutschland und den Nationen in Osteuropa und Asien eine Nivellierung im Lebensstandard geben wird: die nach oben, wir nach unten. Wir haben darauf bisher keine Antwort. Aus meiner Sicht kann nur unsere Technologiefähigkeit den Standort Deutschland absichern. Wir müssen uns auf unsere alten kreativen Möglichkeiten besinnen.

Wo liegt das Kreativpotential für deutsche Manager?

Unternehmensführer müssen lernen, politischer zu denken. Wenn Sie in Deutschland Gespräche mit Top-Führungskräften führen, werden sie schnell feststellen, wie groß das Unverständnis für politische Abläufe oft ist. Außerdem brauchen wir mehr langfristiges Denken. Die Bereitschaft der deutschen Manager, ihr Betriebsergebnis heute zu belasten, um damit die richtigen Investitionen für die Zukunft in zehn Jahren zu tätigen, ist nicht überall sehr ausgeprägt. Auch da machen uns die Japaner etwas vor.

Sind deutsche Politiker ebenso zurückgeblieben?

Die Politik bemüht sich jetzt, wirtschaftliche Zusammenhänge besser zu verstehen, was die Wirtschaft umgekehrt oft nicht in dem Umfang tut. Ich erlebe bei den Parteien und Gewerkschaften eine ganz große Nachdenklichkeit, die allerdings noch nicht nach außen gedrungen ist.

Der Liberalismus der Rechten ist ungebrochen. Ist die Nachdenklichkeit eine Sache der Linken?

In einem kleinen Kreis der SPD-Fraktion hatte ich neulich dazu äußerst konstruktive Gespräche. Da ist plötzlich der Wunsch zum Dialog mit der Industrie viel ausgeprägter geworden. Das ist ein ganz neuer Prozeß der letzten 12 Monate. Grundsätzlich ist das natürlich keine Sache der Linken, was immer Sie damit meinen, sondern ein Problem aller politisch interessierten Kreise und Parteien.

Welche Weichen wollen Sie in diesen Gesprächen stellen?

Wir machen es uns gelegentlich einfach, wenn wir Parlament und Politiker kritisieren. Aber wir kommen bisher nicht zu dem Punkt, was wir eigentlich besser machen können. Wer da weiter will, und ich will das, wird leicht als Systemveränderer denunziert. Das kann für einen Manager ziemlich gefährlich werden.

Wollen Sie den Kapitalismus verändern?

Das geht wohl nicht, aber früher haben wir uns immer auf die Produktionsprozesse konzentriert. Wir haben immer geglaubt, es ginge um Produktivität und Mehrwert. Erst in letzter Zeit haben wir festgestellt, daß es im ganzen Apparat nicht stimmte. Wir haben hier in unserem Unternehmen ganze Hierarchieebenen gestrichen. Das ist eine Kulturrevolution. Dabei haben wir nichts anderes getan, als unser System in Frage zu stellen. Das muß erlaubt sein.

Welche Systemveränderungen bieten Sie dem Arbeiter an? Wenn es an Identifikation am Umternehmen mangelt, warum werden dann die Arbeiter nicht stärker am Eigentum der Unternehmen beteiligt?

Ich wäre dafür. Es gibt in diese Richtung Ansätze, die aber nicht ausreichen. Bei uns läuft ein Programm der Belegschaftsaktien, das in Teilbereichen der Dasa neu eingeführt wurde. Wir waren vom Erfolg der Aktien bei den Mitarbeitern überrascht. Das Gefühl für den Mitarbeiter, am Unternehmen direkt beteiligt zu sein, muß unbedingt gestärkt werden.

Manchmal scheint es so, als haben deutsche Vorstandsvorsitzende gar nicht die Zeit, solche Ideen weiterzuentwickeln. Sie hetzen von einem Termin zum nächsten. In Japan dagegen ist der Vorsitzende der Mann mit der meisten Zeit im ganzen Unternehmen. Er hält keinerlei Funktion im Betrieb und hat nur die Aufgabe, strategische Ziele zu bestimmen. Wie gelingt Ihnen das hier?

Als Chefs deutscher Unternehmen sind wir in der Tat sehr viel stärker in den operativen Ablauf eingebunden als japanische Top- Manager. Am Wochenende setze ich mich manchmal mit einem weißen Blatt Papier hin und schreibe auf, wie ich meine Zeit verbracht habe. Dann sehe ich immer wieder, wieviel effizienter ich hätte arbeiten können. Wir sollten uns als Top-Manager tatsächlich mehr Zeit für Gespräche nehmen, mit Mitarbeitern und so wie heute.

Für die seit drei Jahren dauernden Gespräche mit Mitsubishi haben Sie sich diese Zeit genommen. Doch in Deutschland sprechen alle von einem Flop.

Weil in Deutschland niemand versteht, daß allein das Gespräch schon ein Erfolg ist. Daß wir dabei ein Vertrauen aufbauen, die Möglichkeit des Gedankenaustausches haben, was mehr bedeutet, als nur über einen Motor oder ein Flugzeug zu reden – das alles ist in Deutschland nicht vermittelbar.

Warum nicht?

Unsere Gesellschaft ist sehr stark vom schnellen Erfolg getragen. Ich habe das in der Flugzeugindustrie lernen müssen: Wenn ich hier in Deutschland jemandem meine konkreten Probleme mit dem Überschallflugzeug erzähle, die in zwanzig Jahren relevant werden, lacht der mich aus. In Japan nimmt man sich Stunden Zeit, um genau dieses Gespräch mit mir zu führen.

Interview: Georg Blume

Japankorrespondent der taz