Schwieriges Miteinander gegen das Böse

Gestern abend begann in München der 25. Deutsche Evangelische Kirchentag. Rund 120.000 meist junge Gläubige reden bis Sonntag über Gott und die Welt. Nach den Morden von Solingen rückt das Thema Fremdenhaß zweifellos in den Vordergrund.

Ein Kindergesicht mit lachend leuchtenden, dunklen Augen, schemenhafte Figuren vor Feuerschein, eine Müllhalde und eine Marienstatue, zwei Frauen, die eher miteinander zu rangeln scheinen, als daß sie sich an den Händen halten – Ausschnitte aus dem Plakat zum 25. Deutschen Evangelischen Kirchentag. „Nehmet einander an“ heißt die Losung der diesjährigen Großveranstaltung evangelischer Christen auf dem Münchner Messegelände. Rund 120.000 Dauerteilnehmer haben sich bereits angemeldet. Das Interesse in den neuen Bundesländern hält sich dabei in Grenzen, so registrierten die Veranstalter. Von dort sind bisher nur 12.000 Anmeldungen eingetroffen. Kirchentagspräsidentin Erika Reihlen rechnet damit, daß sich zum „Markt der Möglichkeiten“ und zu den 2.500 Einzelverstaltungen vor allem „Kirchen-Insider“ drängen werden, die hauptberuflich oder ehrenamtlich in den Gemeinden arbeiten.

„Nehmet einander an“, mahnte der Apostel Paulus im Römerbrief. Daß das nicht so einfach ist, auch kirchenintern nicht, hatten im Vorfeld gerade diejenigen erfahren, die diese Losung für zu unverbindlich und theologisch zu leichtgewichtig befanden. Ein anderer Text, den der ehemalige Generalsekretär des Weltkirchenrates, Philip Potter, dem Kirchentagspräsidium vorgeschlagen hatte, war nach langer, kontroverser Debatte „durchgefallen“ (s. Interview unten). Das verschmähte Motto: „Denn auch ihr seid Fremde gewesen“ überschreibt jetzt stattdessen den „Themenbereich 2“. Potter sei, war aus dem Präsidium hinterher zu hören, darüber „sehr enttäuscht und betrübt“ gewesen.

Im „Themenbereich 2“ sind auch die Diskussionen um das innerdeutsche Verhältnis der Kirchen und Menschen in den neuen und alten Bundesländern zueinander, über „Alltag“ und „Dissidenz“ in der Ex-DDR zusammengefaßt. Und auch hier wurde eine Chance verpaßt. Die sächsische Landeskirche wäre bereit gewesen, den Kirchentag in diesem Jahr in Leipzig auszurichten. Nur waren, so ungehaltene Stimmen, die Organisatoren nicht dazu bereit, die Mammutveranstaltung auf ein für dortige Verhältnisse handhabbares Maß „abzusprecken und etwas bescheidener auszurichten“. So aber ließ sich das riesige Rahmenprogramm nicht in der Messestadt unterbringen.

Auch die evangelischen Frauen – weiterer Diskussionsschwerpunkt – haben gerade in den letzten Monaten erfahren müssen, daß es mit dem „Einander-Annehmen“ keine so einfache Sache ist. Jüngste Querelen richteten sich gegen die beiden Studienleiterinnen der Frauen- und Bildungsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Diplompädagogin Herta Leistner, die nicht verschwieg, daß sie Lesbe ist, und die Theologin Renate Jost mußten eine Rufmordkampagne über sich ergehen lassen. Pietisten geißelten ihre Wahl als „großen Flurschaden“ und warfen den Frauen „einseitige, fragwürdige und unbiblische Positionen“ vor. Interne Widerstände hatte es auch schon vorher bei der Wahl der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen gegeben. Jüngste Kräche machen sich an dem Buch „Das Schwarzmond-Tabu“ der Theologin und Psychotherapeutin Jutta Voss fest. Sie muß sich in einem Lehrzuchtverfahren verantworten. – Da wirkt der Sündenfall auf der Seite 475 des Programmheftes eher komisch. Nach Beendigung des Kirchentages, steht da tatsächlich zu lesen, „können Sie Papphocker und Papphockerinnen aus den Hallen mitnehmen. Preis 1,00 je Stück“. Wer das war, weiß auch Pressesprecherin Eva Maria Lettenmeier nicht. Sie vermutet außer „der Hektik“, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, „einen Schelm“.

Mit Nostalgie und Wehmut erinnern sich basisbewegte Gruppen an die Kirchentage Anfang der 80er Jahre, als der damalige Präsident Helmut Simon die „Protestantische Bürgerbewegung“ ausrief und mit lila Halstüchern massenhaft gegen die Nachrüstung protestiert wurde. Sie hoffen darauf, daß in den Veranstaltungen und Arbeitsgruppen, in Gottesdiensten und an den Ständen eine deutliche Sprache wiedergefunden wird. Die Chance dazu bietet das nachgebesserte Programm. Da finden sich Bibelstellen, die wahrlich mehr aktuellen Bezug haben als die inkriminierte Losung. Zum Beispiel Hebräer 13,2: „Die Fremdenliebe vergeßt nicht, denn durch sie haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Oder Mose, 23,2: „Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen zum Bösen! Auch sollst du nicht im Rechtsstreit aussagen, um der Mehrheit entsprechend das Recht zu beugen, es zu biegen.“

Der Kirchentag, der am Sonntag um 10 Uhr mit einem großen Schlußgottesdienst endet, begann am Mittwoch abend mit 55 ökumenischen Gottesdiensten in den Kirchen der Stadt. Der heutige Tag, das katholische Fronleichnamsfest, steht ebenfalls ganz im Zeichen der Ökumene. Die katholische „Große Stadtprozession“ und eine evangelische Prozession beginnen getrennt und treffen später, so Landesbischof Hanselmann, „auf ökumenischem Weg zusammen“. Der Weg endet um 11.15 Uhr mit einer gemeinsamen Andacht auf dem Marienplatz. Auch Begegnungen mit dem jüdischen und islamischen Glauben stehen bis Samstag auf dem Programm.

Der Kirchentag nimmt sich in seinem Umfang trotz der absehbaren „Publikumsrenner“ zur innerdeutschen Problematik mit seinen internationalen Foren, Umweltschutz, Musik, gemeinsamem Singen und zahlreichen Theatervorstellungen, Beat-Messe, Liturgischer Nacht fast übergewichtig allumfassend aus. Da steht morgen während des „Männer-Forums“ die Frage an: „Werden sich Männer ändern?“ Da diskutieren Carl- Friedrich von Weizsäcker und der Dalai Lama über den Frieden, schmettern Bläserkonzerte „... bis das Lied zum Himmel steigt“, bleibt Tschernobyl unvergessen und treffen sich die „beseelten Wesen“ zum ökumenischen Gottesdienst „Nehmet die Tiere an“. Gesellschaftliche Gruppen, Verbände und Gemeindeinitiativen stellen sich im umfangreichen „Markt der Möglichkeiten“ in vier Messehallen vor. Verkauft werden darf dort nichts. Das bleibt dem „Kirchentagsshop“ vorbehalten. Dort gibt es Aufkleber, Anstecknadeln und den kirchentagseigenen Löffel für das Mittagessen: „Edelstahl mit Textprägung und Jerusalemkreuz“. Außerdem werden in der ganzen Stadt Veranstaltungen stattfinden und, in weiser Voraussicht angesichts der Fülle, gegen die „Hektik“ eine „Halle der Stille“ eingerichtet sein. Heide Platen