„Wir sind nicht mehr da in einem halben Jahr“

■ Marieluise Beck zurück aus Bosnien / Begegnung mit Bremer Hilfstransport vor den „Killing Fields“

Die Erschöpfung steht ihr noch ins Gesicht geschrieben, und das Grauen, das sie in der vergangenen Tagen gesehen hat: Die Grüne Bürgerschaftsabgeordnete Marieluise Beck ist zurück von einer Reise mitten durch das bosnische Kriegsgebiet. Und so schwer die komplizierte Lage zu erklären sein mag, ihre Botschaft ist klar: Was dort passiert, das ist Völkermord — und die Welt sieht zu.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden die bosnischen Moslems ganz und gar vernichtet oder, wer Glück hat, vertrieben sein, aufgerieben zwischen serbischen Truppen und kroatischen Verbänden. Marieluise Beck: „Das ist eine Situation wie beim Warschauer Getto.“ Und der Druck auf die Öffentlichkeit wächst: Mittlerweile stehen sechs SenatorInnen inklusive Klaus Wedemeier unter einem Aufruf, der sich für eine militärische Intervention ausspricht.

Die Versorgung Bosniens hängt an einer dünnen Nabelschnur: Nachdem die Hauptstraße von Split aus unpassierbar geworden ist, muß jeder Transporter eine schlammige Sandpiste nehmen. Diesen Weg hat auch die kleine Delegation von Bündnis 90/Die Grünen genommen, nach Freimut Duve die einzigen deutschen PolitikerInnen, die sich im Kriegsgebiet haben sehen lassen.

Nachdem klar wurde, daß die internationale Politik mit dem Vance-Owen-Plan den Moslems nur noch kleine Reservate zuordnen und die Serbischen Eroberungen faktisch akzeptieren würde, hat sich die Lage dramatisch zugespitzt: Das war das Signal an die kroatischen Verbände, die Koalition mit den Moslems aufzukündigen. Die Serben halten 70 Prozent Bosniens, da wollten die Kroaten auch nicht leer ausgehen. Und die Reservateregelung hat ihnen signalisiert, daß im Umkehrschluß das Land, das ihnen zugestanden wird, ethnisch gesäubert werden darf. Frei nach serbischem Muster. So sind die Moslems eingekeilt. Die Stadt Zenica beispielsweise wird von von serbischer und von kroatischer Artillerie beschossen. Und die Uno steht daneben und darf nicht eingreifen.

Die kleine Politikergruppe reiste von Horror zu Horror. Die Stadt Mostar ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Mostar ist geteilt, im Ostteil leben 40.000 Moslems seit zweieinhalb Monaten eingekesselt und ohne Wasserversorgung. Die ist zerstört, die Menschen holen sich ihr Wasser aus dem Fluß. Fast jeden Tag betteln deutsche Ingenieure darum, die Leitungen reparieren zu dürfen — und beißen auf Granit bei den kroatischen Belagerern. Ob es da keine Seuchen gebe, fragte die grüne Marieluise Beck den Offizier der UN. Und bekam zur Antwort: „Wir gehen davon aus, daß es in zehn Tagen vorbei ist.“ In der Stadt wütet Typhus.

Alle Telefonleitungen aus dem verbliebenen Moslemgebiet sind gekappt, was in den Städten und Dörfern passiert, dringt nur sehr spärlich nach draußen. Auch Nachrichten wie diese: Nachdem die Moslems sich geweigert hatten, sich den kroatischen Verbänden zu unterstellen, griffen sie als erste Strafmaßnahme ein Dorf nahe der Stadt Vitez an. Über hundert Moslems wurden in einem Massaker getötet, der Imam und seine Frau an die Tür der Moschee genagelt und verbrannt.

Hilfslieferungen haben kaum noch eine Chance. Vor einem kroatischen Posten bei der Stadt Prozor steht ein Konvoi von 250 Lastwagen, die nicht durchgelassen werden. „Fassungslos“ sei ihre Gruppe an der langen Schlange vorbeigefahren, erzählte Marieluise Beck. Und: Auch der LKW mit bremischen Hilfsgütern war darunter. „Die drei Fahrer haben geweint, als sie uns gesehen haben.“ Vor ihnen die Kroaten und zehn Kilometer Strecke, die „Killing Fields“ genannt wird: Auf den Bergen Stellungen von regionalen Militärfürsten, die die Straße beschießen, wie sie wollen. Trotzdem seien mittlerweile alle Fahrer so weit, daß sie es riskieren würden: „Sie sagen, es wäre ja schon gut, wenn die Hälfte durchkäme.“

Das Embargo trifft vor allem die Opfer, die Moslems. Weder die kroatischen noch die serbischen Verbände haben bislang Nachschubprobleme. Beck: „Die Moslems brauchen vor allem Waffen und die Hilfe von außen. Jeder Bandit kann die UNO vorführen.“ Und für die Eingeschlossenen zählt jeder Tag. Als sie in Zenica der Leitern eines Waisenhauses versprach, bald wiederzukommen, da habe die nur freundlich gelächelt und geantwortet: „Wir sind nicht mehr da in einem halben Jahr.“ Jochen Grabler