Wer soll es machen - wenn nicht die Enkel?

■ SPD-Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing über die personellen und programmatischen Perspektiven seiner Partei

Herr Blessing, die Mitgliederbefragung über den künftigen Parteichef findet auf dem Höhepunkt der sozialdemokratischen Krise in Europa statt. Gibt es ein spezifisch deutsches Problem der SPD oder doch eher eine europäische Krankheit der Sozialdemokratie insgesamt?

Karlheinz Blessing: Die Sozialdemokratie in Europa muß ihre Reformphilosophie neu definieren, weil die alte sozialdemokratische Politik, Zuwächse gerechter zu verteilen, heute nicht mehr funktioniert. Spezifisch deutsch sind die Probleme, die wir mit dem Fall der Mauer haben: die Verteilungsproblematik im Ost-West- Zusammenhang, die Fragen der Zuwanderungspolitik und die Neudefinition der Rolle Deutschlands in der Welt. Bestimmte Konsequenzen, die wir bisher aus unseren Grundwerten ziehen konnten, sind damit strittig geworden.

Die bisher bestimmende Rolle der traditionellen Sozialdemokratie bestand darin, erstens für gerechte Verteilung zu sorgen, zweitens internationale Solidarität hochzuhalten und drittens entspannungspolitische und gewaltarme Lösungen zu suchen. In welchem dieser Punkte ist die sozialdemokratische Krise am deutlichsten spürbar, welcher muß am ehesten neu definiert werden?

Also nicht alles muß neu definiert werden. Die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität haben nach wie vor Gültigkeit. Nur, was heißt heute Gerechtigkeit? Früher war das klar: Gerechtigkeit hieß Verteilungsgerechtigkeit zwischen Arbeit und Kapital. Heute kommt die Frage hinzu, wie läßt sich Verteilungsgerechtigkeit zwischen den alten und den neuen Ländern herstellen, wie ist angesichts von Haushalts- und Finanzkrise Gerechtigkeit innerhalb der Klasse machbar. Bei Tarifabschlüssen, die möglicherweise für eine längere Zeit unterhalb der Preissteigerungsrate liegen, findet der Verteilungskampf plötzlich innerhalb der eigenen Reihen statt. Das macht es auch schwierig, die Homogenität herzustellen, die man bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen braucht.

Steckte nicht hinter der Idee der Verteilung der Arbeit auf viele – die Lafontaine-Steinkühler-Debatte – nicht auch die Absicht, eine größere Basis für solidarisches Handeln zu haben; denn je mehr aus dem Arbeitsprozeß herausfallen, um so weniger sind in gemeinsamem Interesse zu mobilisieren und um so schärfer wird die eigentlich gemeinsame Basis der Sozialdemokratie gegeneinandergehetzt, also die, die keine Arbeit haben, die Deklassierten, gegen die, die Arbeit haben, aber natürlich zunehmend in die Gefahr des Abstieges geraten.

Gesamtgesellschaftlich gesehen ist das sicher richtig. Die Leute im unteren Drittel der Gesellschaft sehen keine Interessenvertretung mehr. Sie sind nicht mehr gewerkschaftlich organisiert, aber auch in der SPD sehen sie nicht mehr ihre Vertretung, weil sich die Partei in den achtziger Jahren sehr stark neuen Schichten geöffnet hat. Die Gefahr ist sehr groß, daß sich das untere Drittel der Gesellschaft sozialchauvinistischen Parteien zuwendet. In Schleswig Holstein jedenfalls kamen fünfzig Prozent der DVU-Wähler aus dem sozialdemokratischen Milieu.

Wie kann die SPD auf die anderen neuralgischen Punkte, Krise des Internationalismus und nationale Identität, reagieren?

Zuerst einmal, indem sie sie nicht tabuisiert. Die Sozialdemokratie war, und das relativiert die jüngsten Konflikte, keinesfalls 130 Jahre lang ein monolitischer Block, wir hatte immer tiefe Auseinandersetzungen – auch in der nationalen Frage. Bis heute gibt es einen Hang in der Sozialdemokratie, so internationalistisch sie ist, nicht als „vaterlandslose Gesellen“ gelten zu wollen. Andererseits sind in der Partei mittlerweile die Generationen bestimmend, die europäisch aufgewachsen sind, die sich im Westen viel besser auskennen als in der DDR. Ich glaube nicht, daß wir nach Europa gehen können mit der Ansicht: Deutschland, das ist ein Provisorium ohne eigene nationale Identität.

Könnte der Kompromiß zwischen den Internationalisten und den Verfechtern nationaler Identität nicht so aussehen: Wir können uns identifizieren mit einem Deutschland, das sich als Einwanderungsland und als multikulturelle Gesellschaft begreift?

Was den Begriff „multikulturell“ betrifft, bin ich skeptisch. Das bedeutet die Akzeptanz höchst unterschiedlicher Kulturen, die nach ihren eigenen kulturellen Gesetzen leben. Ich möchte, daß unterschiedliche Kulturen die Gesamtkultur prägen, aber nicht, daß sie sich abschotten.

Wenn die Binnengesellschaft diesen internationalen Charakter und diese Offenheit hätte, kann man sich eher positiv zu ihr verhalten.

Deshalb bin ich dafür, daß die Leute, die hier zum Teil schon in der dritten Generation leben, sich nicht nur der staatlichen Gewalt unterordnen müssen, sondern eben auch Teil dieser staatlichen Gewalt sein können. Stichwort: doppelte Staatsbürgerschaft.

Warum hat denn die Kraft der SPD nicht ausgereicht, im Zusammenhang mit dem Asylkompromiß das Einwanderungsgesetz durchzusetzen?

Ich war an den Verhandlungen nicht beteiligt und ich maße mir nicht an, den Ablauf zu bewerten. Ich selbst habe immer wieder dafür plädiert, die Änderung des Artikel 16 mit der Einwanderungsgesetzgebung zu koppeln. Man hätte es nicht unbedingt gleichzeitig verabschieden, aber man hätte zumindest die Geleise dafür legen müssen. Diese Forderung der SPD ist bei den Regierungsparteien jedoch auf Ablehnung gestoßen. Dennoch, wenn wir hier nicht bürgerkriegsähnliche Zustände haben wollen, dann muß ein Zeichen gegenüber den fünf Millionen hier lebenden Ausländern kommen – anders funktioniert das gar nicht.

Wird die SPD jetzt ihre Kursänderungen immer nach der Petersberger Methode vollziehen? Verliert sie ihre politische Handlungsfähigkeit, weil Kurskorrektur nur noch als ruinöser innerparteilicher Prozeß vonstatten geht?

Ich sehe hier ein generelles Problem der Linken. Die Achtundsechziger sind ja angetreten mit einem sehr radikalen, aufklärerischen Impuls. Sie haben Dogmen in Frage gestellt, haben Tabus gebrochen und neue gesellschaftliche Bündnispartner gefunden. Momentan scheint mir die Linke in Deutschland, meine Partei eingeschlossen, in einem Zustand zu sein, wo sie die Programmatik der achtziger Jahre fast schon dogmatisch verteidigt. Jede Positionsverschiebung steht sofort unter dem Stigma der Anpassung nach rechts, des Verrates von Grundsätzen. Was ich vermisse ist der Versuch, sich der veränderten Realität zu vergewissern und dann zu fragen, wie können wir sie von linken Grundsätzen aus gestalten. Dies findet nicht statt. Wenn wir eine Position verändern, weil sie der Realität nicht mehr gerecht wird, kriegen wir von links her sofort eine reingewürgt.

Muß es denn einen Kompromiß bei den Out-of-area-Einsätzen geben? Besteht nicht die Gefahr, daß sich die Partei jetzt immer mit einem großen moralischen Pathos „der Wirklichkeit“ und damit zugleich den Positionen der Rechten annähert? Dieses Land ist heute doch eher schwächer als vor 89 und könnte gerade deshalb bescheidenere Vorstellungen in der Außenpolitik durchhalten.

Es wäre vernünftig, erst einmal zu fragen, welche Außenpolitik wäre nach dem Wegfall der Blockkonfrontation notwendig, welche Ziele verfolgen wir und welche Instrumente brauchen wir dafür. Erst in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Mitteln. Man muß doch erst einmal wieder die Relationen zurechtrücken. Die Sicherheit dieses Landes hängt doch viel mehr davon ab, ob die GUS-Staaten sich stabilisieren und eine Perspektive finden als von irgendwelchen Bundeswehreinsätzen.

Wie würden Sie denn das nationale Interesse in bezug auf die Außenpolitik definieren?

In Richtung Osten muß unser nationales Interesse sein, alles zu tun, damit diese Staaten sich ökonomisch und sozial entwickeln, daß dort keine Krisenherde militärisch eskalieren. Das ist in unserem fundamentalen Interesse. In Richtung Westen geht es um die Herstellung der Europäischen Gemeinschaft als politische Union. Die dritte Frage, die sich dann stellen wird, betrifft unsere Stellung im Rahmen der UNO. Ich denke, man könnte Verständnis für eine zurückhaltende deutsche Rolle finden, wenn man darauf verweist, daß vor drei Jahren noch 16 Millionen einem anderen Bündnissystem angehört haben. Es liegt auch im internationalen Interesse, daß sich die neue Bundesrepublik zu einer homogenen und stabilen Gesellschaft mit einer stabilen Demokratie entwickelt. Das aber ist mit außenpolitischen Ansinnen, die innenpolitisch nur schwer zu ertragen sind, nicht vereinbar.

Wie will die SPD diese Position durchhalten? Die Debatte findet in der Gesellschaft kaum statt, von daher kommt keine wirkliche Unterstützung.

Ich will die Schwierigkeiten nicht leugnen. Aber es ist für uns leichter durchzuhalten als beim Thema Asyl, weil die außenpolitische Debatte nicht von den Emotionen des Stammtisches lebt. Der Druck ist nicht vergleichbar. Ich glaube, daß die Linie Blauhelme mit einer Selbstschutzkomponente durchzuhalten ist. Das um so mehr, als in der kommenden Zeit wohl auch die Motive der Bundesregierung deutlicher werden: daß es ihr darum geht, globale Machtpolitik betreiben zu können. Wenn die These richtig ist, daß das außenpolitische Engagement dieses Landes auf einem gesellschaftlichen Konsens aufbauen soll, dann braucht man Zeit, um diesen gesellschaftlichen Konsens herzustellen.

Die SPD sucht gerade ihren neuen Vorsitzenden. Krise des Sozialstaates, Wegbrechen des sozialdemokratischen Milieus, neue Außenpolitik – keiner der drei KandidatInnen ist in bezug auf diese Fragen konzeptionell besonders aufgefallen. Findet die Wahl überhaupt unter dem Gesichtspunkt statt: Wer führt diese Partei in die wichtigen politischen Auseinandersetzungen?

Also man kann von den Kandidaten nicht Dinge erwarten, die die Partei insgesamt nicht leistet. Die Mitgliederbefragung findet weniger unter inhaltlichen Gesichtspunkten statt, aber ich bin sicher, daß alle drei Kandidaten inhaltlich mehr zu bieten haben, als sie momentan zu erkennen geben.

Könnte es sein, daß die Partei einen Vorsitzenden wählt und dabei unter der Hand ein Kanzlerkandidat herauskommt?

Gerhard Schröder hat recht eindeutig gesagt, was er will. Gewinnt er, wäre damit zugleich die Kanzlerkandidatenfrage erledigt. Heidi Wizcorek-Zeul kandidiert nur für den Vorsitz. Rudolf Scharping möchte zumindest als erster gefragt werden. Falls es mehrere Anwärter gibt, sollte man auch bei der Kanzlerkandidatur die Mitglieder beteiligen. Da ließe das Parteiengesetz sogar ein verbindliches Urwahlverfahren zu.

Wählt die Partei jetzt nach dem Motto „wir sind wieder wer“, oder hat sie nach Engholm ein Gespür für Risikobegrenzung?

Ich glaube schon, daß die Mitgliedschaft eine Parteiführung will, die sich offensiv mit dem politischen Gegner auseinandersetzt. Das ist für viele weniger eine programmatische als eine habituelle Frage.

Die Partei will Helmut Schmidt, etwas verjüngt?

Wenn man den Umfragen glauben schenken darf, ja.

Genau das ist das Irritierende. Schließlich wird da eine Person gewählt, die für die Zukunft dieses Landes möglicherweise eine entscheidende Verantwortung hat. Wissen die Mitglieder das?

So ist das eben in der Demokratie.

Gute Antwort.

Also bei aller Kritik, die da von Amerikanisierung redet, ich halte die Mitgliederbefragung für einen guten Schritt. In einer pluralisierten Gesellschaft und einer pluralisierten Partei, die nicht mehr in der Milieubindung alleine zu halten ist, die aber nach wie vor auf Milieubindung ausgerichtet ist und damit viele vom politischen Engagement ausschließt, muß man neue Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten anbieten. Das halte ich für zukunftsweisend und ich glaube auch, das ist irreversibel. Das wird prägend für die deutsche Parteienlandschaft insgesamt werden.

Wir würden das jetzt an Ihrer Stelle auch sehr positiv interpretieren, als Stück neuer Parteidemokratie, aber entstanden ist das Ganze doch, weil es ein Machtvakuum an der Spitze gibt.

Also die Idee war schon am Tag des Engholm-Rücktrittes da. Ohne eine vorausgegangene Debatte um neue Beteiligungsformen wäre das nicht so gewesen. Die, die das eingebracht haben, wollten, daß die Partei eine Chance hat, ihre Strukturen zu verändern. Das Motiv war, die Partei zu beteiligen. Es ging nicht darum, daß der Parteivorstand einer Entscheidung ausweichen wollte.

Außer der demokratischen Chance liegt auch eine Gefahr in dem Verfahren, nämlich daß der Sieger große Blöcke von Verlierern hinter sich läßt. Nun müßte eine verantwortliche Parteiführung oder auch Kandidaten doch darüber nachdenken, wie sie die andern mit einbinden.

Ich glaube, daß jeder oder jede, die nachher an der Spitze steht, nur handlungsfähig ist, wenn es tatsächlich so etwas wie eine Parteiführung gibt, die geschlossen und loyal zusammenarbeitet. Das wissen alle drei und deshalb gehen sie auch relativ sanft miteinander um. Das sind Signale an die möglicherweise Unterliegenden, bei der Stange zu bleiben. Daß sich die Anhänger des jeweiligen Kandidaten am Ende untereinander bekriegen, das ist nicht meine Sorge.

Also, wer wird's?

Das weiß ich leider auch nicht.

Also wer soll's werden?

Ja, das ist so ein bißchen wie mit der eierlegenden Wollmilchsau. Wir brauchen jemanden, der Richtung Bundesregierung angreift, wir brauchen jemanden, der integrativ wirkt und die Partei zusammenhält und wir brauchen einen programmatischen Eisbrecher, der die Partei inhaltlich zu neuen Ufern führt. Egal wer gewinnt, hinterher müssen sich die Leute zusammensetzen und sehen, daß sie sich über eine solche Rollenteilung einig werden. Es gibt da schon eine kollektive Generationenverantwortung. Wer soll es denn machen, wenn nicht diese Generation, die Enkel- oder 68-Generation. Ich sehe keine andere. Das Gespräch führten

Antje Vollmer und Matthias Geis