"Viele mit Kindern halten nachts jetzt Wache"

■ Die Stimmung unter den in Hamburg lebenden Türken ist nach den Anschlägen von Mölln und Solingen wachsam

ist nach den Anschlägen von Mölln und Solingen wachsam

In dem türkischen Café auf St. Pauli sitzen 30 Männer. Alle Tische sind besetzt. Sie trinken Tee oder Kaffee, spielen Karten, unterhalten sich. Im Regal stehen Bierflaschen, doch niemand trinkt Alkohol — geraucht wird viel. Als ich den Raum betrete, verstummen die Gespräche. Alle sehen mich an, als käme ich aus einer anderen Welt. Wurde hier vielleicht eine Tabuzone durchbrochen, die erst recht nach Mölln und Solingen besteht?

„Du kannst hier alle Fragen stellen“, beruhigt Hakif, nachdem er verstanden hat, worum es geht. Hakif ist der Besitzer des Cafeś. Er bietet einen Platz an, ein Kellner bringt Kaffee, während sich die Gäste wieder ihrem Spiel zuwenden. „Viele Leute gehen jetzt früher nach Haus und die Kinder müssen da sein, bevor es dunkel ist“, berichtet Hakif. Er selbst habe ständig die Augen auf die Eingangstür gerichtet, die bei dem warmen Wetter immer offen steht. 1976 kam Hakif aus der Türkei in die Bundesrepublik. Seit zwei Jahren betreibt er seine Gaststätte und sagt, er habe noch nie Ärger gehabt.

Als der Anschlag in Solingen geschah, lief im Café der Fernseher. „Als wenn hier eine Bombe explodiert sei“, versucht Hakif unbeholfen die Stimmung von damals zu beschreiben. Ein etwa 50jähriger Mann mit graumeliertem Haar setzt sich mit an den Tisch, sagt aber kein Wort. Hakif hat Mühe, seine Emotionen im Zaum zu halten: „Wir waren schwer getroffen, konnten es nicht verstehen. Wir haben unser Leben in Deutschland reingesteckt und sowas zurückbekommen.“ Der andere Gast sagt etwas auf türkisch. Hakif antwortet ihm und sagt dann: „Viele von uns sind jetzt bewaffnet.“ Die jungen Leute würden gerne mit Gegengewalt antworten, „aber wir versuchen sie zurückzuhalten“. Viel wichtiger für ihn sei, daß die Strafen für solche Taten erhöht werden. Hakif ist aber auch der Meinung, daß Druck von oben auf die Brandstifter ausgeübt wurde: „Ein Kind weiß nicht, was es macht.“ In diesem Moment bemerke ich, daß der Tisch neben uns plötzlich leer ist, die Gäste drängen sich etwas abseits zusammen.

Wenn es in Deutschland schlimmer werden sollte, weiß er nicht, wohin: „Ich bin Kurde, komme aus der Ost-Türkei. Wenn ich zurückgehe, werde ich dort verfolgt.“ Wenn es jedoch um die Anschläge in Mölln und Solingen gehe, seien Kurden und Türken einer Meinung: „Dann sind wir eine Stimme.“

In anderen türkischen Cafeś, Imbissen oder Obst- und Gemüsegeschäften sind die Menschen nicht so aufgeschlossen wie Hakif. Höflich aber bestimmt wird signalisiert, daß man an einer Meinungsäußerung nicht interessiert sei. „Ich möchte dazu nichts sagen“, wehrt beispielsweise ein etwa 20jähriger, in akzentfreiem Deutsch ab.

Im Gemüsegeschäft werde ich zurückgerufen, als ich gerade gehen will: „Ich habe immer meinen Revolver bei mir“, sagt der Inhaber so laut, daß es die Kunden mithören können und zeigt mit dem Finger auf eine Bauchtasche. Sein Angestellter, Erdal, eilt dazu und meint: „Das bringt dir auch nichts, wenn sie dir nachts, wenn du schläfst, das Haus anzünden.“ Der Besitzer antwortet nicht, sondern geht raus. Merkwürdigerweise scheint er daran nicht gedacht zu haben. „Viele Leute, die Kinder haben, halten jetzt nachts Wache, damit sie ein Feuer rechtzeitig bemerken“, berichtet Erdal. Auch er ist ratlos, was man tun kann, glaubt, daß es noch schlimmer werde: „Das steckt in den Leuten drin.“

Draußen vor dem Laden gibt der Besitzer mir ein paar Kirschen: „Hier kommen oft junge Leute, die Hunger haben, aber kein Geld, denen gebe ich immer Obst, Brot oder Kekse. Würde das ein Deutscher auch tun?“ fragt er. Andrew Ruch