Neue Musik durch neue Technik?

■ „KlangArt“ zum zweiten Mal in Osnabrück — Kongreß, Festival, Ausstellung über Musik und Computer

Die menschliche Sehnsucht nach „unerhörten Klängen“ ist alt, Francis Bacon formulierte sie schon 1618 — als ahne er die technischen Möglichkeiten des Musik-Computers. In den 20er Jahren dieses Jahrhunderts entstanden die ersten Geräusch- Collagen — noch ganz konventionell produziert, aber schon unter Ausnutzung der sinnlichen Täuschung, die hinter Magnettonband und Radio-Apparat die Techniken der Klangerzeugung verschwinden läßt.

In Osnabrück hat nun zum zweiten Male ein Kongreß „KlangArt“ die Veränderungen der Musik im Computerzeitalter zum Thema gemacht — ihre Versprechnungen auf ganz Neues, aber auch ihre Enttäuschung, wenn am fertigen Produkt kaum noch das Können abzulesen ist, weder die musikalische Anstrengung noch die Fingerfertigkeit.

Luca Francesconi:

Musik aus Computern wird so selbstverständlich wie Musik aus Instrumenten

Die durch den Computer generierte Musik verunsichert damit die Kriterien des Urteils, sie wirft aber auch die Frage nach unserer Wahrnehmung des Realen auf — jedenfalls für „uns“, die Zwischengenerationen, die mit dem Computer aufwachsen, aber noch am Konservatorium studieren können. Für zukünftige Generationen werden, so behauptete jedenfalls der italienische Musik-Produzent und Komponist Luca Francesconi auf der KlangArt'93, die Compu

Das gute alte Klavier — im verlorenen Wettstreit oder im neuen Duett mit dem Klang aus dem Computer?Foto: Dacapo

ter-Klänge genauso selbstverständlich sein wie die eines Instruments, es sei ein Privileg dieser Generation, die Grenzerfahrung zu thematisieren, auch kompositorisch. Francesconis klassisch anmutendes, elektronisch verfremdetes Klarinettenkonzert, das in Osnabrück uraufgeführt wurde, wollte auf dieser Grenze gehen: Auf der Bühne der Stadthalle saß das Osnabrücker Symphonieorchester, geleitet von seinem Dirigenten Jean-Francois Monnard, aber die Klarinettenlänge des Paolo Beltramini kamen nicht nur von vorn, sondern „spielten“ auch, teilweise mehrfach verzögert und verfremdet, wie ein Echo

hier bitte das Foto mit

Klavier und Computer

aus dem Rücken des Publikums „mit“. Ein winziges Mikrophon an der Klarinette sorgte dafür, daß die Zuschauer des live-Konzertes die Zusammenhänge der Vorführung ahnen konnten.

Das Bedürfnis nach dem „sichtbaren“ Instrument bremst den Schwung der abstrakten Computer-Produktionen. Peter-Michael Hamels „Teambeau de Messiaen“ an der elektronische Orgel fand nicht deswegen weniger Beifall als Francesconi, weil der Anspruch als anmaßend empfunden worden wäre. Sondern für die Zuschauer war einfach wenig nachvollziehbar, was auf der Diskette von Messiaen zu hören war und was

Hamel „live“ per Fingerspiel hinzufügte.

Ganz anders bei dem Konzert des Osnabrücker Jugendchores. Da war immer zu unterscheiden, was aus dem knarrenden Lautsprecher kam und was von dem ganz traditionell eingestimmten Chor — der Dirigent vor dem Altar, mit Kopfhörer, führte beides zusammen, ein faszinierendes, neues Bild. Aber ist der sakralen Musik damit geholfen?

Wenn der Computer schon nicht die ganz neue Musik-Erfahrung möglich macht, so erlaubt er wenigstens eine Antwort auf die alte Frage: Was macht, daß wir einen natürlichen Klang als „schön“ empfinden? Jobst Peter Fricke (Uni Köln) ist dieser Frage nachgegangen, und er hat eine erschreckend einfache Antwort präsentiert: Erstens müssen die Oberton-Formanten gegeneinander getrennt, das Oberton-Spektrum also stark untergliedert sein, und zweitens muß die Oberton-Hüllkurve im Zeitablauf minimale Ungleichmäßigkeiten aufweisen. Deswegen „klingen“ Computer- Klänge, die konstant sind, so unangenehm elektrisch. Also: keine neue Musik durch neue Technik, nur alte Instrumente neu klanglich nachgeahmt?

Ein Höhepunkt des KlangArt-Festivals unter diesem Gesichtspunkt war die Begleitung eines Buto-Tänzers durch die Gruppe „Das Personal“. Psychodelic Jazz, wie das Programm ankündigt, trifft den Kern nicht. Der schöne Ton kommt auch heute noch unübertreffbar aus der Querflöte oder aus der Geige und nicht aus dem Sequencer. „Das Personal“ versucht nicht, dies nachzuäffen, sondern nutzt den Computer für die Klangfarben des 20. Jahrhunderts: gellendes Klirren, Rumpeln, glucksende, liebende, schreiende, krächzende — unverständlich verstümmelte Stimm-Fetzen. Zu dem ausdrucksstarken Tanz des Tdashi Endo improvisierte „Das Personal“ zum Höhepunkt seines Auftritts eine furchterregende Musik des Sterbens und des Todes, die so in der Klangwelt der klassischen Instrumente nicht darstellbar wäre. Die Szene endete mit einem ohrenbetäubenden Poltern und Krachen, die sinnlich erfahrbar machte, wie furchtbar eine Begräbniszeremonie von unten, aus dem Sarg, empfunden werden muß, wenn die Steine und die Erde auf den Deckel prasseln. Fast die Hälfte des zahlenden Publikums wartete derweil im Foyer, bis das vorbei war und Steve Roach die Sinne mit minimalistisch variierten schönen Tönen erfreute.

Klangfarben des 20. Jahrhunderts: gellendes Klirren, Rumpeln, glucksende, liebende, schreiende, krächzende — unverständlich verstümmelte Stimm-Fetzen

Wenn „KlangArt–93“ insgesamt kein rechtes Bild ergeben wollte, dann aus einem einfachen Grund: Es fehlte der rote Faden. Das Vortragsprogramm würfelte wie ein Fachkongreß von Vielem etwas zusammen, ohne Schwerpunkte zu bilden und ohne wirklich das Fachpublikum überregional anlocken zu können. Der organisatorische Kongreß-Höhepunkt am Samstag hatte mit den vorangegangenen zwei Tagen nichts zu tun und reduzierte das Interesse auf den ganz harten Kern der Musik- Produzenten: ein Podium zum Thema „Urheberrechtsprobleme der neuen Musik“.

Das Konzertprogramm konnte in eindrucksvoller Weise zeigen, wie aufgeschlossen die regionale Musiker-Szene gegenüber den neuen Techniken ist, hatte aber nur einzelne mühsam hergestellte Bezüge zum KlangArt-Kongreß. Den Bonus, „erster Kongreß“ dieser Art zu sein, konnte nur die Premiere 1991 für sich in Anspruch nehmen.

Klaus Wolschner