Abgestürzt

■ betr.: "Traurig jammervolles Ding" (Filmkritik zu "Falling Down"), taz vom 5.6.93

betr.: „Traurig jammervolles Ding“ (Filmkritik zu „Falling Down“), taz vom 5.6.93

Komm' ich doch am Freitag abend aus dem Kino und sage zu Freund Hans: „Komisch, daß noch keineR unsereR bundesdeutschen MittelgroßkritikerInnen auf den Streifen reingefallen ist und die alte Platte von wegen mittelständischem Spießertum, family values, Selbstjustiz und ähnlichem Quatsch abgenudelt hat.“

Schlag' ich doch am Samstag morgen die taz auf, und schon ist es passiert: Anja Seeliger ist völlig abgestürzt, „Falling Down“ quasi mit Quadratlatschen auf den sprichwörtlichen Leim gegangen, und nudelt brav und sozialdemokratisch bis in die Bleistiftspitze die alte Platte vom „biederen Bürger, von Ehe, Familie, Patriotismus“ und den „Probleme(n) der weißen Mittelklasse“ ab. Satire ist hierzulande eben nur drin, wo auch Satire draufsteht. Thomas Mohr, Berlin

[...] „Falling Down“ ist ein guter Film. Hollywood reflektiert darin ein von vielen Amerikanern empfundenes Lebensgefühl, vermittelt es einem selbst betroffenen Publikum in nachvollziehbarer Weise und verdient dabei noch Geld. Mehr kann man von Kultur nicht verlangen. Hätten wir in Deutschland eine ähnlich kreative Institution wie Hollywood, wären wir unseren gesellschaftlichen Befindlichkeiten nicht so sprach- und verständnislos ausgeliefert, wie dies der Fall ist. Aber da sind die Seeligers davor. Wie Generationen deutscher FilmkritikerInnen vor ihnen schreiben die nämlich nicht mal mit der Möse, sondern mit dem Steiß. Schon Tucholsky hat sich darüber ein Magengeschwür geärgert. Claus Auer, Oberhonnefeld

Einer der Dreh- und Angelpunkte meines Ärgers sind folgende Sätze: „Befremdlich nur, mit welcher Hartnäckigkeit Schumacher die Tatsache leugnet, daß dieser Mann ein Psychopath ist.“ – „Scorsese erkennt einen Psychopathen, wenn er einen filmt.“

Als in der Psychiatrie Tätiger muß ich zunächst mal darauf hinweisen, daß es nach Jahrzehnten endlich gelungen ist, diesen extrem abwertenden und ausgrenzenden Bild-Zeitungsbegriff fallenzulassen. Die Notwendigkeit eines solchen Vokabulars scheint aber für die Abwehr der schmerzhaften Erkenntnis, daß man sich von einem biederen Amokläufer wohl doch nicht so ohne weiteres abgrenzen kann, notwendig. Sie machen dem Regisseur den Vorwurf, dieses nicht kenntlich zu machen. In welchen eigenartigen Vorstellungswelten bewegen Sie sich eigentlich, wenn Sie „das Böse“ wie den Mörder aus dem „Schweigen der Lämmer“ aufbereitet haben möchten? Würden Sie einer forensischen Abteilung einen Besuch abstatten, würden Sie sich über das „normale“ Aussehen der meisten Untergebrachten wundern müssen.

Im übrigen haben Sie gerade bei dieser Frage gründlich weggeguckt: Bereits in der ersten Szene wird das aggressiv-gehemmte der charakterisierten Mittelschicht mehr als deutlich. Wer es dann immer noch nicht begriffen hat, dem kann es dann über die Video- Szene endgültig klar werden: die Szene mit der weinenden Tochter, die nicht aufs Schaukelpferd will. Müssen wir – nachdem wir alle Alice Miller gelesen haben (in Europa) – noch mehr wissen? Sicher ist in einem Splatter-Movie das „Böse“ etwas einfacher zu identifizieren. [...]

Ich finde den Film gerade wegen seiner Brüchigkeit und Durchlässigkeit der Hauptfigur wichtig, beunruhigend, intelligent und diskussionswürdig und letztlich gut. Dr. Claus-Henrich Coester,

Berlin