: Wie universell sind die Menschenrechte?
In Wien konferieren Vertreter von 186 Staaten über die Menschenrechte, doch die Chancen für einen Konsens stehen schlecht ■ Von Andreas Zumach
Das Aufgebot ist imposant. Mehr als hundert Außenminister aus aller Welt, Delegationen von 186 Regierungen, Vertreter von über tausend Nichtregierungsorganisationen (NGOs), und Tausende von Journalisten werden sich ab Montag im Wiener UNO-Zentrum auf der Donauinsel tummeln. Für zwei Wochen wird die österreichische Hauptstadt zum Schauplatz der zweitgrößten UN-Konferenz – nach der Mammut-UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) im Juni letzten Jahres in Rio.
Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Dezember 1989 die Idee einer „Welt-Menschenrechtskonferenz“ zum ersten Mal diskutierte, war der Enthusiasmus für eine derartiges Projekt noch groß; besonders auf Seiten westlicher Regierungen. Der Fall der Berliner Mauer wenige Wochen zuvor markierte den Zusammenbruch der staatskommunistischen Systeme in Europa, das Ende der globalen Ost-West-Konfrontation und damit die Überwindung einer jahrzehntelangen Blockade in den meisten UNO-Gremien.
Die Aussichten, durch eine Weltkonferenz – der zweiten nach der Teheraner des Jahres 1968 – das Anliegen der Menschenrechte voranzubringen, schien günstig. Ein Jahr später, am 18. Dezember 1990, beschloß die UNO-Generalversammlung die Einberufung der Konferenz für Mitte Juni 1993 und legte folgende Aufgaben für die Zusammenkunft fest:
– Eine Bestandsaufnahme und Bewertung der Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte seit Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ im Jahre 1948; die Identifizierung von Problemen sowie die Diskussion von Wegen zu ihrer Überwindung
– Die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Entwicklung und der Ausübung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, bürgerlicher und politischer Rechte;
die Erörterung von Schritten zur Umsetzung von Menschenrechtsstandards und -instrumenten;
– Die Überprüfung der Effektivität von Methoden und Arbeitsweisen der Vereinten Nationen im Bereich der Menschenrechte sowie
– Die Entwicklung von Empfehlungen zur Sicherung finanzieller und anderer Resourcen für die Menschenrechtsarbeit der UNO.
Nachdem sie sich bereits in vorderster Front für die Durchführung der Weltmenschenrechtskonferenz stark gemacht hatte, setzte die deutsche Bundesregierung fast ein Jahr lang all ihre diplomatischen Beziehungen ein, um die alte und neue Hauptstadt Berlin als Veranstaltungsort durchzusetzen. Doch kurz nachdem die Deutschen im Spätherbst 1991 von der ersten Genfer Vorbereitungstagung für die Konferenz den Zuschlag erhielt, machten Kanzler Kohl und der damalige Außenminister Genscher einen spektakulären Rückzieher. Zur großen Überraschung und Frustration ihrer Genfer Diplomaten und aus bis heute nicht völlig geklärten Motiven. In seinem Absagebrief an UNO-Generalsekretär Butros Ghali sowie vor dem Deutschen Bundestag, in dem damals bis weit in die Reihen der Regierungsfraktionen Empörung herrschte, begründete Kohl den Rückzieher mit finanziellen Motiven. Die von ihm damals auf 100 Millionen Mark veranschlagten Kosten seien der von den Folgelasten der deutschen Vereinigung besonders betroffenen Stadt Berlin nicht zuzumuten. Hinter den Kulissen gab es jedoch zahlreiche Hinweise, wonach die Bundesregierung nicht den Gastgeber spielen wollte für eine Konferenz, auf der China und andere für Deutschland wichtige Wirtschaftspartner wegen ihrer Menschenrechtspolitik auf die Anklagebank geraten könnten.
Zweieinhalb Jahre nach dem Beschluß der UNO-Generalversammlung zur Durchführung der Konferenz ist der damalige Enthusiasmus schon lange verklungen. Zumindest hinter vorgehaltener Hand wünscht so mancher Genfer UNO-Diplomat aus der „westlichen Gruppe“ (EG-Staaten, USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Japan), es hätte diesen Beschluß nie gegeben.
Die vier Genfer Vorbereitungstagungen waren von einem stetig eskalierenden Konflikt geprägt zwischen den westlichen Staaten einerseits und einer Reihe asiatischer und mittelamerikanischer Länder mit den Wortführern China, Burma, Pakistan, Iran, Kuba und Mexiko andererseits.
Das in diesen Wochen der Vorbereitung für die Wiener Konferenz häufig zu hörende Wort vom „Nord-Süd-Konflikt“ über die Menschenrechte unterschlägt allerdings, daß es keine einheitliche Position der Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gibt. Die Organisation für afrikanische Einheit (OAU) hat die auf UNO- Ebene festgeschriebenen Rechte und Normen in ihre Charta übernommen.
Prinzipiell abgelehnt werden die universelle Gültigkeit der Erklärung von 1948 sowie bestimmte Normen, wie die Gleichberechtigung der Frauen oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit, allerdings von einigen islamischen Staaten oder aber von den orthoxoden Bereichen ihrer Gesellschaften. Das weitgehende Versagen des Westens beim Schutz der Überlebensrechte der bosnischen Muslime hat den Propagandisten derartiger Positionen erheblich in die Hände gespielt. In den meisten westlichen Hauptstädten besteht die Sorge, daß sich die in letzter Zeit verstärkt vorgetragene Fundamentalablehnung aus islamischen Staaten und die Kritik zahlreicher nichtislamischer Staaten an der Menschenrechtsstrategie des Nordens in Wien bündeln und im Ergebnis zu einer Aufweichung universell gültiger Menschenrechtsnormen führen könnten.
Vorsorglich drängt die westliche Staatengruppe bereits darauf, daß ein gemeinsam verabschiedeter Schlußtext bei der Wiener Konferenz nur den lockeren Status einer „Erklärung“ erhält. Viele Staaten des Südens wünschen hingegen die verbindlichere Form des „Schlußdokuments“, das dann ähnliche Bedeutung haben soll wie die seit 1948 international vereinbarten Menschenrechtsdokumente. Die westlichen Staaten sind entschlossen, die Konferenz lieber ohne eine gemeinsame Erklärung enden – und damit auch ganz offiziell scheitern zu lassen, als Formulierungen zuzustimmen, die hinter bislang gültige Menschenrechtsnormen zurückfallen. Derzeit sieht es allerdings so aus, als käme in Wien kein gemeinsamer Abschlußtext zustande – zumindest nicht im Konsens. Ob abgestimmt werden kann, ist eine noch umstrittene Prozedurfrage. Auf der eigens um eine Woche verlängerten letzten Genfer Vorbereitungstagung wurde Anfang Mai zwar schließlich ein Entwurf verabschiedet. Der besteht aber noch zu einem guten Drittel aus Klammern mit alternativen Formulierungsvorschlägen zu den meisten der bislang strittigen Fragen.
Die Diskrepanzen zwischen den Menschenrechtspolitiken des Nordens und ihren Ursachen sind keineswegs neu. Doch während der Phase der Ost-West-Konfrontation wurde dieser Konflikt auf der internationalen Bühne kaum ausgetragen. In dieser Phase kümmerten sich zumeist nur unabhängige Organisationen wie amnesty international um Menschenrechte in den Ländern des Südens. Den Regierungen der meisten westlichen wie östlichen Industriestaaten waren sie kein Anliegen, oder nur dann, wenn sich das Thema zur Propaganda gegen die andere Seite nutzen ließ. Der jüngst veröffentlichte „Wahrheitsbericht“ einer UNO-Kommission über die Salvador-Politik der US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush beleuchtet eines der schlimmsten Beispiele für dieses Defizit. Inzwischen machen zahlreiche westliche Industriestaaten die Gewährung von Krediten, Entwicklungshilfe und von wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Ländern des Südens zunehmend von der dortigen Menschenrechtslage abhängig. Allerdings wird diese „Konditionalität“ meist nur gegenüber ärmeren, schwächeren und für die eigenen Wirtschaftsinteressen nicht so bedeutenden Staaten konsequent umgesetzt. Selten aber gegenüber Ländern wie etwa China oder Indonesien, die eine wichtige Rolle als Investitionsgebiet und künftiger Exportmarkt spielen. Diese Selektivität untergräbt die Glaubwürdigkeit westlicher Argumente bei Menschenrechtsdiskussionen innerhalb der UNO. Das Mißtrauen vieler Regierungen des Südens wird darüber hinaus geschürt durch die seit dem Golfkrieg im Frühjahr 1991 verstärkt geführte Debatte über Einmischungen in „innere Angelegenheiten“ oder gar militärische Interventionen, die mit Menschenrechtsverletzungen begründet werden. Bei zahlreichen Regierungen Asiens, Lateinamerikas aber auch Afrikas herrscht der Eindruck vor, daß es dem Norden dabei vorrangig um Interventionen im Süden zwecks Sicherung eigener Interessen geht. Dieser Eindruck ließe sich wohl nur korrigieren, wenn sich die Industriestaaten auch einmal ernsthaft und konsequent um fragwürdige Menschenrechtspraktiken in der nördlichen Hemisphäre kümmern würden – zum Beispiel um die Situation in Nordirland. Das Mißtrauen vieler Länder des Südens wird auch gestärkt durch die anhaltende Erfahrung, daß für sie wichtige Organisationen, Strukturen und Duskussionsforen innerhalb der UNO immer mehr an Bedeutung verlieren und abgebaut werden. So wurden etwa die Kompetenzen der UNO- Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in den letzten 15 Jahren immer mehr in vom Norden dominierte Zusammenhänge wie Weltbank, Weltwährungsfonds, das Gatt oder die G-7 verlagert. Auch die von UNO-Generalsekretär Butros Ghali Anfang 1992 groß angekündigte UNO-Reform ist bis heute kaum vorangekommen – schon gar nicht in den Bereichen, in denen sich die Länder des Südens eine Stärkung ihres Einflusses und ihrer Mitenscheidungsrechte erhofft hatten.
Vor diesem Hintergrund findet die Weltmenschenrechtskonferenz zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt statt und kann eigentlich nur die Polarisierung weiter fördern. Die Aussichten, daß eine der konkreten Forderungen, mit denen verschiedene Regierungen und NGOs nach Wien reisen, von der Konferenz angenommen werden, sind gering. Das gilt etwa für den von den EG-Staaten, den USA sowie von amnesty international verlangten UNO-Hochkommissar für Menschenrechtsfragen mit weitgehenden Kompetenzen bei der Untersuchung und Beurteilung der Menschenrechtslage in UNO-Mitgliedsstaaten; für den von zahlreichen NGOs vorgeschlagenen Sonderberichterstatter über die Menschenrechtslage von Frauen oder für die Einrichtung eines dauerhaften Menschenrechts- Gerichtshofes.
Sollte eine oder mehrere dieser Institutionen tatsächlich von der Konferenz beschlossen werden, so werden sie mit Sicherheit nicht die weitgehenden Befugnisse erhalten, die ihre Befürworter fordern. Unwahrscheinlich ist auch, daß die von vielen Seiten gewünschte Erhöhung der finanziellen Aufwendungen für die Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen von heute weniger als einem Prozent des UNO-Budgets auf fünf Prozent den Konsens der Konferenz findet.
Angesichts der zugespitzten Kontroversen zwischen den Regierungen hätten die 1.000 NGOs aus Nord und Süd, die in Wien teilnehmen, eine vermittelnde Rolle spielen können. Die vorbereitenden Konferenzpapiere etwa von amnesty international und der aus bundesdeutschen Aktionsgruppen, Kirchen und Gewerkschaften gebildeten „Menschenrechtsplattform“ einerseits sowie des Netzwerks von sechzig asiatischen NGOs andererseits enthalten zahlreiche wichtige Gemeinsamkeiten. Sie alle betonen die unwiderufliche und universelle Gültigkeit sämtlicher seit 1948 international vereinbarter Menschenrechtsnormen und fordern deren Anerkennung und beschleunigte Umsetzung durch ausnahmslos alle Staaten.
Zugleich kritisieren die NGOs die Regierungen des Südens für die mangelnde Beachtung individueller Grundrechte und fordern Verbesserungen auch schon unter den zumeist schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Den Regierungen der Industriestaaten wird von den NGOs vorgeworfen, Menschenrechtsverletzungen in Entwicklungsländern durch Militärhilfe und die Aufrechterhaltung ungerechter Weltwirtschaftsstrukturen zu fördern. Sie sollen unter anderem durch massive Entschuldungsprogramme zu günstigeren Voraussetzungen für eine Verbesserung der Menschenrechtssituation im Süden beitragen.
Doch die Einflußmöglichkeiten der NGOs wurden schon im Vorfeld stark eingeschränkt. An dem Ausschuß, der den Schlußtext für die Weltmenschenrechtskonferenz erarbeitet, dürfen sie nicht teilnehmen. Und in Wien selber können die NGOs ihre Positionen nur im unter eigener Regie veranstalteten Vor- und Rahmenprogramm darstellen. Denn vom Hauptgeschehen der Konferenz sind sie wenn auch nicht per Beschluß so doch de facto ausgeschlossen.
Denn die Außenminister beziehungsweise andere Regierungsvertreter sämtlicher teilnehmenden Staaten wollen in Wien eine Rede halten. Und die haben immer noch Vorrang vor den NGOs. Ein Modell, nach dem für jede Weltregion nur einige wenige Vertreter reden, wurde auf den Vorbereitungstagungen erst gar nicht ernsthaft diskutiert. 186 fünzehnminütige Statements – die elf Wiener Konferenztage werden in jedem Fall zum endlosen Redemarathon werden.
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