„Nichts zu gewinnen“

Die russische Bevölkerung tauscht fleißig Gutscheine in Aktien / Aber reich wird durch die Privatisierung nur die alte Nomenklatura  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Seit einem halben Jahr beneide ich die RussInnen. Denn von Hinz bis Kunz, vom Säugling bis zur Tattergreisin – alle haben sie jetzt einen und tauschen sich darüber aus, was man mit ihm alles Aufregendes anstellen kann. Gemeint ist natürlich der „Voucher“, dessen ziviler Name „Privatisations-Scheck“ lautet.

Das Stück Papier mit der aufgedruckten Zahl Zehntausend soll allen BürgerInnen des Landes einen gleichen Ausgangsanteil bei der Privatisierung der großen staatlichen Unternehmen sichern. Aber lange werden sie ihn nicht behalten, den Voucher. Denn bis zum Ende dieses Jahres müssen alle auf sogenannten Scheck-Auktionen gegen Unternehmensaktien eingetauscht sein. Hier fängt für die RussInnen das Kopfzerbrechen an, und mein Neid schwächt sich merklich ab.

Viele verkaufen ihren Voucher aus Ratlosigkeit in irgendeiner Metro-Unterführung, denn mit ihm darf gehandelt werden. Aber wenn sich doch jemand auf eine Auktion begibt, wie kann er wissen, ob das gewählte Unternehmen nicht im nächsten Monat bankrott macht?

Immerhin informieren Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen verstärkt über Firmen, die sich an den Auktionen beteiligen. Und auch die KassiererInnen auf den Scheck-Auktionen führen mit jedem Kunden ein intensives Beratungsgespräch.

Tausende von Mitarbeitern der staatlichen „Vermögens-Stiftung“ sind zu diesem Zwecke ausgebildet worden. Jeder Beschwerde gegen diese Personen geht übrigens eine Sonderkommission der „Vermögens-Stiftung“ innerhalb von zwei Wochen nach. So soll verhindert werden, daß die Kundenberater von kränkelnden Unternehmen als Propagandisten „gekauft“ werden.

Meine Freundin Xenija zum Beispiel möchte mindestens eine Aktie der Moskauer „ZIL“-Autowerke mit ihrem Voucher kaufen, und deshalb mußte sie sich schon vor einiger Zeit auf den Weg zur Auktion machen. Von dem Vorgang selbst war sie sehr beeindruckt: „Kein Gerangel und Geschrei! In einer riesigen Halle waren genug Schalter für alle, und die Kassierer helfen geduldig beim Ausfüllen aller Aktien-Optionen“, erzählt sie.

Bei Optionen vom Typ „A“ gibt der Antragsteller einfach an, für wie viele Voucher er Aktien des genannten Unternehmens kaufen will. Bei Optionen vom Typ „B“ kann er eine Art Gebot abgeben: Aktien dieses Unternehmens werde ich nur dann kaufen, wenn ich für meinen Voucher mindestens eine (eine halbe, ein dutzend) bekomme.

Natürlich ist es von Betrieb zu Betrieb verschieden, wie viele Aktien angeboten werden. Zuerst werden alle Optionen vom Typ „A“ mit Aktien versorgt. Bleiben dann noch welche übrig, fallen sie den Antragstellern vom Typ „B“ zu, und zwar um so wahrscheinlicher, desto mehr ihr Gebot den Verkaufswert der Aktie übersteigt.

Zwar macht dieses System auf den ersten Blick den Eindruck, als sichere es allen RussInnen gleichermaßen den Zugang zum volkseigenen Vermögen. Doch davon kann nicht die Rede sein, wie das Beispiel ZIL zeigt: in einem Interview der Moskauer Regionalzeitung Kuranty erklärte der stellvertretende Vorsitzende der ZIL-AG, Wenjamin Kallner, daß bereits vor den Auktionen dreißigtausend Menschen eine nicht näher definierte Anzahl von Gratis- und Vorzugs-Aktien erhielten – Werksangehörige, ZIL-Rentner sowie heute anderswo Werktätige, die lange genug bei ZIL waren. Und dazu noch jedeR einen Voucher ...

Die Belegschaften – und vor allem die Direktionen – der Großunternehmen sind die ersten, die den Aktien-kuchen anschneiden können. Die Geschicke vergleichbarer Großbetriebe werden daher noch lange in den Händen der Nomenklatura liegen.

Aber ohnehin erklärte mir die kompetente Generalsekretärin der russischen Jungunternehmer Innen-„Partei der Ökonomischen Freiheit“, Irina Hakamada, kürzlich, daß mit Aktien in Rußland heute überhaupt kein Geld zu gewinnen sei. Selbst wenn der Wert einer Aktie steige, sei die Inflation allemal schneller.

Falls aber die russische Wirtschaft insgesamt auf die Beine käme, ja dann ... dann könnte ich vielleicht doch wieder so richtig neidisch werden.