Das SPD-Mitglied, das unbekannte Wesen

Kaum jemand wagt eine Prognose, wen die rund 900.000 SPD-Mitglieder am Sonntag zum Vorsitzenden der Partei küren werden: Rudolf Scharping, Gerhard Schröder oder Heidi Wieczorek-Zeul. Die Urabstimmung verspricht, die spannendste Wahlentscheidung des Jahres zu werden.

Eine(r) wird gewinnen, aber wer wird das sein? Am Tag vor der Abstimmung der knapp 900.000 Mitglieder steht nur eins fest: Die SPD liefert am Sonntag die spannendste Wahlentscheidung des Jahres. Kaum jemand wagt eine sichere Prognose, wen das Wahlvolk als künftige(n) Vorsitzende(n) sehen will. Die Demoskopie versagt in diesem Falle völlig und auch altgediente Parteimitglieder legen sich nur ungern fest. Wer kennt schon die Stimmungen in der riesigen Mitgliedschaft, deren weitaus größter Teil seit Jahr und Tag an keiner Aktivität mehr teilgenommen hat? Aber nun sind sie alle eingeladen: am „Tag des Ortsvereins“ kann jede(r) seine Stimme abgeben, wenn sie nicht schon vorher, per Briefwahl, an die örtliche Parteigliederung gegangen ist.

Ein Novum für die SPD: De facto entscheidet die Mitgliedschaft in einer Urwahl, wer die Partei künftig führen soll. Nur noch formal, weil Parteiengesetz und SPD-Satzung es so verlangen, liegt das letzte Wort beim Parteitag, der am 25. Juni in Essen stattfindet. Die Verbindlichkeit der Entscheidung kommt durch die Kandidierenden zustande, meinte Kandidat Rudolf Scharping vor zwei Wochen. In dieser Frage sind die drei einer Meinung. Wer am Sonntag die Nase vorn hat, wird's.

Oder doch nicht? Am Montag, erst dann wird mit einem verbindlichen Ergebnis gerechnet, tagen in Bonn Präsidium und Parteivorstand. Letzterer wird, nach Satzung und Gepflogenheiten eine Empfehlung für den Parteitag beschließen. „Der Spielraum des Vorstands nach der Wahl ist nahezu null“, befand Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing gestern, obwohl in der letzten Woche das Gegrummel gegen das Verfahren wieder vernehmlicher geworden ist. Was geschieht, wenn am Ende alle drei fast gleich abschneiden, und wenn nur eine Minderheit der SPD abstimmt? Der Parteitag müsse die Möglichkeit der Wahl zwischen zwei oder drei Bewerbern zurückerhalten, verlangte der Bundestagsabgeordnete und Parteilinke Albrecht Müller. Satzungsmäßig wäre das möglich, hängt allerdings ganz von den KandidatInnen ab. Auch wenn der Parteivorstand den Gewinner der Mitgliederbefragung vorschlägt, können aus dem Kreis der Delegierten Vorschläge kommen. Aber auf dem Wahlzettel des Parteitags kann nur stehen, wer mit seiner Kandidatur auch einverstanden ist. „Jedenfalls, wenn einer erkennbar und deutlich vorn liegt, dann wird das der Vorschlag des Vorstandes sein.“ Interims-Parteichef Johannes Rau definierte gestern im Deutschlandfunk den Spielraum des Parteivorstands etwas weitherziger als der Bundesgeschäftsführer. Und wenn keiner deutlich vorn liegt? Rau: „Dann reden wir darüber, und zwar mit den Kandidaten.“ Satzungswidrig sei die Selbstbindung der drei KandidatInnen aber nicht, im Fall der Wahlniederlage die Kandidatur zurückzuziehen. Und daran hatte sich bis gestern nichts geändert.

So scheint doch eher wahrscheinlich, daß 150.000 SPD-Mitglieder — auf diese Mindestbeteiligung hofft der Bundesgeschäftsführer — ein Beispiel geben. Wenn die SPD urwählen kann, warum soll das in den anderen Parteien nicht gehen? Tissy Bruns, Bonn