"Ethnische Säuberungen auf neudeutsch"

■ betr.: "Warum aufregen?" ("Tagesthemen"-Kommentare zu Solingen von Bednarz und Engert im Vergleich), taz vom 8.6.93

betr.: „Warum aufregen?“ („Tagesthemen“-Kommentare zu Solingen von Bednarz und Engert im Vergleich), taz vom 8.6.93

Der kommentarlose Abdruck dieser beiden Fernsehkommentare war ein journalistisches Glanzstück mit gewiß nicht zu unterschätzender Wirkung. Was fehlte – gerade zum Thema „Solingen“ – war mal wieder die Stimme eines deutschen Journalisten/Kommentators mit fremder Herkunft. Die Angegriffenen werden selbst dort verschwiegen, wo sie offiziell geredet haben.

Ich sende Ihnen darum den Kommentar, den Frau Xenia Bloom schon am selben Tag, dem 29. Mai um 18.50 Uhr in Radio Bremen 1 gesprochen hat und der auch wiederholt wurde, zum Nachdruck in Ihrer Zeitung, als Ergänzung zu den beiden Dokumenten. K.-W. Hanne, Bremen

Zu den drei Toten in Mölln sind fünf hinzugekommen, die aus Solingen. Türken alle, Türkinnen vielmehr, Menschen zweiter und dritter Klasse, Ausländer, Kanaken oder wie sie sonst beschimpft werden. In München soll es auch gezündelt haben, zum Glück ohne Opfer, dieses Mal ohne Opfer.

Während die vermeintlichen Täter von Mölln vor Gericht stehen, vielleicht besteht sogar ein Zusammenhang zwischen Mölln und Solingen, während also die vermeintlichen Täter von Mölln vor Gericht stehen, verbrennen Menschen in Solingen oder stürzen sich in den Tod.

Wie lange noch? Wie lange noch müssen wir, sogenannte Ausländer, diesem Morden zuschauen? Wie lange noch müssen wir, sogenannte Ausländer, Menschen ohne politische Rechte, fünfte Kolonne des bundesdeutschen Wirtschaftswunders, diesen Zustand aushalten? Wir haben demonstriert, wir haben protestiert, wir haben höflich gebeten, wir haben um Hilfe gerufen. Was muß noch alles geschehen? Warum ist dieser Staat um Himmelswillen nicht in der Lage, uns zu schützen?

Warum will uns dieser Staat nicht schützen?

Sie hängt uns zum Halse heraus, wir haben sie ausgehechelt, die Geschichte mit den perspektivlosen Jugendlichen, die fehlgeleitet in die rechte Szene abrutschen und deshalb Asylanten umbringen, und deshalb türkische Familien abfackeln. Die Sache hat System! Und diese fehlgeleiteten Jugendlichen sind Mörder! Und wer, bitte schön, leitet sie fehl? Herr Lummer etwa, Herr Krause, der jüngste Republikaner im Bundestag?

Die mächtige Bundesrepublik, die Truppen nach Somalia schickt und Patrouillen an der Dalmatinischen Küste fährt, sollte gefälligst ihre Soldaten für den Schutz der Gefährdeten im eigenen Land einsetzen!

Ethnische Säuberung auf neudeutsch, im Jahre drei nach der Wiedervereinigung.

Ihr habt die Lichterketten gebraucht, um im Dunkeln besser sehen zu können. Ihr habt nur leider nicht begriffen, daß Menschenrechte und Toleranz nicht herbeigeleuchtet und nicht herbeigeheuchelt werden können, sondern vorgelebt und erkämpft werden müssen.

Allen Deutschen, die heute und in den nächsten Tagen in die Türkei verreisen, wünsche ich von dieser Stelle aus: Einen schönen Urlaub. Xenia Bloom, Griechin, lebt seit 23 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, wartet seit mehr als einem Jahr auf ihre beantragte Einbürgerung, ist jahrelange Freie Mitarbeiterin von Radio Bremen und hat ohne deutsche Staatsbürgerschaft kein Recht, in einer öffentlich- rechtlichen Anstalt hauptberufliche Redakteurin zu werden