Fauler Zauber mit System

Marvin Harris auf den Spuren heiliger Kühe der Jetztzeit  ■ Von Werner Rügener

Erst jetzt, zwanzig Jahre nachseiner Veröffentlichung in den USA, erscheint „Fauler Zauber“ von Marvin Harris in deutscher Sprache. Man hat offensichtlich bemerkt, daß man etwas Versäumtes nachzuholen hat. Seit 1988 erscheint in Deutschland jedes Jahr ein Buch aus dem Gesamtwerk des amerikanischen Kulturanthropologen. Marvin Harris, 1927 geboren, Professor an der University of Florida in Miami, ist Vorsitzender der Amerikanischen Gesellschaft für Anthropologie.

Das Versäumnis ist nicht zufällig. Es hat etwas mit der deutschen Geschichte zu tun. Anthropologie oder Kulturanthropologie gibt es nicht im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Es gibt keine Lehrstühle und Institute, höchstens in kuriosen Randbereichen, es gibt den Beruf des Anthropologen oder Kulturanthropologen nicht – jedenfalls seit 1945. Seit Anthropologen sich im Nationalsozialismus dazu hergaben, die „Minderwertigkeit“ anderer Rassen zu „beweisen“, ist diese Wissenschaft diskreditiert.

Mit dem Beispiel der heiligen Kühe in Indien eröffnet Marvin Harris seine Untersuchungen über den „Faulen Zauber“. Die Hindus verehren, wie man weiß, das Rind als Symbol alles Lebenden. Es gibt für sie kein größeres Sakrileg, als ein Rind zu töten. Harris untersucht die Funktionen der heiligen Kühe im sozialen und ökologischen System Indiens, die sich von denen in den USA oder Europa erheblich unterscheiden, wo Kühe vor allem Fleisch und Milch bringen sollen. Dafür sind die meist ausgemergelten indischen Kühe in der Tat nicht geeignet. Deshalb sind sie aber keineswegs nutzlos. In Indien müssen Kühe vor allem für das ständige Nachwachsen von Zugochsen sorgen, die das wichtigste Werkzeug des indischen Bauern sind. Der Mist der Kühe ist lebensnotwendig: Er stellt mit 700 Millionen Tonnen pro Jahr das wichtigste und billigste Düngemittel dar und ist mit einem Jahresäquivalent von 35 Millionen Tonnen das wichtigste und billigste Mittel zum Heizen und Kochen – seine sparsame und beständige Flamme ist ideal für das landesübliche Kochen mit geklärter Butter – zudem taugt er, mit Wasser vermischt, als Bodenbelag.

Der Rinderkult zeigt Marvin Harris, schützt die armen Bauern vor sich selbst: Wenn sie die Rinder schlachten würden, nur weil sie in Dürrezeiten Hunger haben, würden sie sich damit ihrer Zugtiere entledigen, die sie dringend brauchen, wenn der Monsun kommt und die Äcker bewässert. Das Verbot der Schlachtung hat auch einen volkswirtschaftlichen Sinn: Der Kalorienwert des Futters ist immer höher als der Kalorienwert des damit erzeugten Fleisches; würde man zur Fleischproduktion übergehen, gingen noch mehr Flächen für die Erwirtschaftung von Gemüse verloren, und die Dorfbevölkerung hätte noch weniger zum Essen. Die umherstreifenden Kühe verwerten das Reisstroh, die Reisspelzen, Gras und Stoppeln, die an Straßen und Bahndämmen gedeihen und vom Menschen nicht verwertet werden können. Für den armen Bauern ist das Rind ein heiliger Bettler, für den reichen Bauern ist es ein Dieb. Gelegentlich brechen die Rinder in das Land eines reichen Bauern ein. Er beschwert sich, aber die armen Bauern tun ahnungslos und vertrauen darauf, daß die kultische Rücksicht ihre Tiere schützt. Die toten Kühe werden von den niederen Kasten sofort zerteilt und gegessen. Ein Teil der Fleisches wird über muslimische Mittelsmänner in städtische Schlachthöfe verkauft. Bei den Armen bleiben auf diese Weise die Häute, die Basis der umfangreichen Lederverarbeitung.

Der normale westliche Agrarexperte will mit dem Argument der nutzlosen Kühe und des unsinnigen Rinderkults nur seine Maschinen verkaufen, ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen. Harris kommt daher zu dem Schluß, daß eine Verbesserung in Indien nur durch eine gerechtere Verteilung von Land, Wasser und Ochsen möglich ist. Überdies räumt er mit dem Märchen auf, daß der höhere Lebensstandard in den Industrienationen das Ergebnis höherer Produktivität sei. Die Tatsache, daß ein Auto dreißigmal schneller als ein Ochsenkarren ist, wird mit einem neunzigmal höheren Energieverbrauch erkauft. Harris folgert deshalb mit anthropologischem Blick auf unsere eigene Wirklichkeit: „Wer eine echte heilige Kuh sehen will, der schaue sich sein eigenes Auto an.“

Harris führt die Mythen, Tabus, Religionen und wissenschaftlichen Theorien auf die praktischen Lebensumstände der Menschen und ihrer Ökosysteme zurück. Er will damit eine Kritik des Alltagsbewußtseins und der „kollektiven Traumgebilde“ leisten. In diesem Sinne untersucht Harris im vorliegenden Buch etwa das Schweinefleisch-Tabu bei den Juden, die Gründe für die Kriegsführung in „primitiven“ Gesellschaften am Beispiel der brasilianischen Yanomamo und die sogenannten Cargo- Kulte in Neuguinea. „Fauler Zauber“ findet so immer eine vielleicht überraschend rationale Erklärung.

Ausführlich geht Harris auf den Zusammenhang zwischen sozialen Protestbewegungen und spirituellen Gegenkulturen ein. Er zeichnet die Geschichte des Christentums nach. Der Jesus der Evangelien erscheint als spätes Ergebnis der kriegerisch-messianischen Protestbewegungen der ärmeren Juden, als nach zweihundertjährigen Kämpfen die Niederlage gegenüber römischen Kolonialherren und reichen jüdischen Kollaborateuren besiegelt war. Danach war das Reich Jesu nicht mehr „von dieser Welt“. Harris zieht die Parallele zu den Protestbewegungen der Bauern und der städtischen Armen des 13. bis 17. Jahrhunderts in Europa. Im selben Zeitraum entstand die Hexenbewegung. Sie wurde durch die Kirche und den Staat zum Hexenwahn hochstilisiert. Phantomfeinde waren an steigenden Brotpreisen und Steuern und an fallenden Löhnen schuld. Die Armen denunzierten sich gegenseitig und verloren die fürstlichen und päpstlichen Machenschaften aus dem Blick. Der Hexenwahn, so Harris, „war die Zauberkugel, mit der die privilegierten, herrschenden Schichten das Volk außer Gefecht setzten. Das war sein Geheimnis.“

In der Neuauflage von okkulten Strömungen, Bewußtseinsrevolutionen, Schamanenkulten und Gegenkulturen sieht Harris heute die „Wiederkehr der Hexerei“. Man mag bei ihm neuere Erkenntnisse der feministischen Hexenforschung vermissen, aber aufschlußreich vergleicht er etwa die Bewußtseinsreisen und Teufelskraut- Pasten des erfolgreichen Gegenkultur-Propheten Carlos Castaneda mit damaligen Hexenpraktiken. Er analysiert Bewußtseinszustände, die bei Rockkonzerten, Rauschgiftgenuß und Antikriegsdemos entstehen und die in hilflosen Gegenkulturen ihre soziale Kraft verlieren. „Nicht anders als ihre mittelalterliche Vorgängerin dient auch die moderne Hexenmasche dazu, die Kräfte des gesellschaftlichen Protestes dumm zu machen. Wie die Gegenkultur insgesamt hintertreibt sie die Ausbildung rationaler Formen des politischen Engagements. Deshalb erfreut sie sich bei betuchteren Schichten der Gesellschaft so großer Beliebtheit.“

Harris' Denken liegt quer zu den Wissenschaftsdisziplinen, Jahrhunderten und Kontinenten. Er versteht seine Forschungen über den zeitübergreifenden „faulen Zauber“, über Nahrungsmittel- Tabus, über die Wachstumsgrenzen von Hochkulturen und ähnliche Themen auch als Kritik an den überspezialisierten heutigen Wissenschaften. Sie tragen eher zu Unwissen und Desorientierung bei. Die Kulturanthropologie ist für Harris der Versuch, die verschüttete „Frage nach dem Menschen“ rational neu zu stellen. Sie gilt im deutschen Wissenschaftsbetrieb immer noch als unzeitgemäß. Um so wichtiger ist sie.

Marvin Harris: „Fauler Zauber. Unsere Sehnsucht nach der anderen Welt“. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz. Stuttgart 1993. Klett-Cotta-Verlag, 274 Seiten, 32 DM.