Klares Wasser, aber ein Meer an Sorgen

Sechs Monate nach dem Tankerunglück hat das „Wunder von Shetland“ nicht stattgefunden  ■ Von Pit Wuhrer

Ein glitschiger Pfad führt an braunverschmierten Häusern vorbei, die an Neujahr noch weiß waren, und zieht sich hinaus zu der schmalen Landzunge Fugla Ness, die das Dorf Hamnavoe vor dem Atlantik schützt. George Pottinger läuft gegen den Wind an, den Regen treibt es ihm waagrecht ins Gesicht. „Das Öl ist zurückgekommen“, hat er schon vor Tagen gewarnt, aber niemand will das hören. Und so stapft er bei dem naßkalten Wetter um die Bucht, um das zu zeigen, wovor sich hier alle insgeheim fürchten. „Die schwarzen Streifen stammen noch von damals“, sagt er und deutet auf die Trauerränder der Uferböschung, „aber vorne zwischen den Felsen war vor einer Woche noch kein Öl.“ Immer wieder streift Pottinger den Finger über die Felsen. „Hier ist es. Und dort. Dabei haben die uns versprochen, spätestens im März sei alles vorbei.“

Seit einem Tag tobt wieder ein Sturm über die baumlosen Shetlands; der Wetterbericht meldet Windstärke 11, die Wellen rollen zehn Meter hoch. Damals, als der Tanker Braer 25 Kilometer weiter südlich auf die Felsen von Garths Ness gelaufen war, herrschte noch schlimmeres Wetter. Der Orkan spülte das Öl an die Klippen und wusch es beim nächsten Seegang wieder herunter. Auf der schmalen Felszunge Fugla Ness aber hat er die schwarze Brühe in die Spalten und kleinen Kavernen des Blockgesteins getrieben. „Dort könnte es von mir aus bis in alle Ewigkeit verrotten“, sagt Pottinger, „aber Stürme wie heute peitschen das Öl aus den Schlupflöchern hinüber in die Bucht.“ Die 400 EinwohnerInnen von Hamnavoe brauchen diese Bucht, denn sie leben vom Meer. Aber ist da nicht nur das Öl in den Ritzen, da ist auch das Öl, das man riechen kann, wenn der Wind von der See her kommt. „Auf dem Meeresgrund muß noch mehr sein.“

George Pottinger vertritt die BewohnerInnen der Burra-Inseln im „Shetland Island Council“ (SIC), dem Inselrat. Von manchen Räten ist er kritisiert worden, weil er die Entdeckung nicht für sich behielt. „Ich stecke ja selst in dem Dilemma“, sagt er, „auch ich würde das gerne verdrängen. Aber können wir uns das leisten? Wir leben vom Wasser, wir leben vom Fischfang, vom Tourismus. Wenn das weiter zerstört wird, sind wir für immer ruiniert.“ Was aber, wenn die Regierung die Hilfe einstellt?

Bis vor kurzem hatte Pottinger gedacht, das Schlimmste sei vorbei. Wenn man von der Klippe hinunterblickt auf das Wrack der Braer, das bis auf den Bug im Wasser verschwunden ist, und gar nichts mehr sieht von dem ganzen Öl, dann möchte man gerne an das „Wunder von Shetland“ glauben. „Ja, es wird schon wieder werden“, sagt der alte Bauer Burgess aus Spiggie. „Das Öl ist verschwunden, am Strand ist nichts mehr zu sehen.“ Das hätten ihm jedenfalls die Behöden erzählt. Harry Burgess ist Vorsitzender des Ortschaftsrates und hat mit einem Dutzend Kühe und hundert Schafen nur einen kleinen Hof, den das Öl, wie er sagt, nicht so sehr getroffen habe. Burgess' Kühe waren ohnehin im Stall und das zusätzliche Futter für die Schafe bezahlt die Versicherung. Wo er aber mit seinen Lämmern hin soll, weiß er nicht. „Hoffentlich gibt die Regierung meine Weide bald frei".

Sein Nachbar Willie Mainland, der in Noss einen Hof bewirtschaftet, ist nicht so optimistisch. Erst mußte er sein ganzes Wintergemüse wegwerfen und jetzt hat er sich ständig um die eingepferchten Schafe und Lämmer zu kümmern, die längst auf die Weide gehören. Fast tausend Hektar Wirtschaftsland gelten als kontaminiert. Willie Mainlands Probleme sind so groß, daß er es sich gar nicht leisten kann, danach zu fragen, ob das Land, falls es von den Behörden freigegeben wird, auch wirklich frei ist von Öl. Was im Herbst sein wird, wenn die Lämmer auf den Markt kommen sollen, weiß keiner. Die Bauern können nur hoffen.Die Sorge um die Zukunft hat Burgess und Mainland die Angst um ihre Gesundheit vergessen lassen. „Ein paar Tage sah es düster aus“, sagt Burgesss, „aber wir Shetlander lassen uns nicht so schnell kleinkriegen.“ Dafür sorgt auch Derek Cox, Chef des Gesundheitsamtes, der im nachhinein viele Befürchtungen für „übertrieben“ hält. Nach dem Unfall seien ihm Bronchialerkrankungen, Sehstörungen, Schwindelgefühle und Kopfschmerzen gemeldet worden, und deshalb habe er allen empfohlen, im Haus zu bleiben. Wer sich trotzdem im Freien aufhalten mußte, dem verordnete er Atemmasken, schließlich habe der starke Sturm zu einer Umweltverschmutzung geführt, die „mit einem Brand in einer Chemiefabrik vergleichbar“ gewesen sei. Die Meßgeräte aber, die ihm zur Verfügung standen, hätten nicht einmal auf die Kohlenwasserstoffkonzentration in der Luft reagiert. Auch langfristige Gesundheitsschäden hält Cox für „extrem unwahrscheinlich“. Tatsache ist aber, daß weder er noch die Inselverwaltung damit gerechnet hatten, daß ein Tankerunglück auch die Landbevölkerung in Mitgleidenschaft ziehen könnte. Und Tatsache ist auch, daß sich Cox trotz anfänglicher Bedenken dazu entschlossen hat, die rund 600 Betroffenen einer Langzeituntersuchung zu unterziehen. Chris Rowlands jedenfalls, ein Arzt im Süden der Insel, läßt nicht davon ab, von PatientInnen zu berichten, deren Atem- und Leberbeschwerden auf die Öldämpfe zurückzuführen seien. Andere Ärzte schließen gar Krebserkrankungen nicht aus. Was wirklich kommt, weiß niemand; man kann nur hoffen.

Direkt hinter der Bucht von Hamnavoe liegt George Duncans kleine Lachsfarm. 1986 hatte Duncan seinen Job als Baggerführer aufgegeben, einen Kredit bei der Bank aufgenommen und mit der Lachszucht begonnen. Reich ist er mit 50 bis 100 Tonnen Fisch pro Jahr nicht geworden. „Lachszucht ist hart genug, auch ohne daß Öl drübergekippt wird“, sagt er. Ihm machen vor allem die Banken Sorgen, der tägliche Papierkram und die ständige Bettelei, die begann, nachdem das Öl seine Farm erreichte und seinen Fisch von einem Tag auf den anderen wertlos machte. Er und die anderen 15 Lachsfarmer in dem Gebiet befürchteten den Bankrott. Das Öl löschte ihre Kreditwürdigkeit, die Banken drehten den Geldhahn zu. Doch dann versprachen die Versicherungen und der „Internationale Fonds zur Etnschädigung bei Ölverschmutzungen“ (IOPCF) Kompensationszahlungen, die Banken waren beruhigt und Duncan erstmal auch. „Wir werden zwar nicht voll entschädigt, aber es geht“, sagt er erleichtert und froh darüber, überhaupt etwas bekommen zu haben.

Im Büro des Lachszüchter-Verbands von Shetland studiert Alistair Goodlad eine lange Liste. Fast täglich melden ihm unabhängige Institute, die mit der Untersuchung der Fische und Lachse beauftragt sind, die neuesten Meßergebnisse. „Wir müssen absolut sicher sein“, sagt Goodlad, „wenn auch nur ein schlechter Fisch auf den Markt kommt, ist alles aus.“ Also schicken die Züchter und der Verband der Fischer regelmäßig Lachse und Fangproben an wissenschaftliche Institute. Aus der gleichen Angst heraus hat der Verband sofort nach dem Unfall der Braer für die Gewässer um Süd- Shetland eine 400 Quadratkilometer große Verbotszone verhängt; die innerhalb der Zone gelegenen 16 Farmen mußten den ausgewachsenen Lachs vernichten. Aber diese Maßnahmen konnten den guten Ruf nicht retten. „Überall auf der Welt werden Shetland und Öl gleichgesetzt“, sagt Goodlad. „Es brauchte acht Jahre harter Arbeit und 3,5 Millionen Pfund, bis wir den Shetland-Lachs als einen der besten der Welt verkaufen konnten – in einer Stunde wurde das alles weggespült. Jetzt können wir wieder vorne anfangen.“ Renommierte Einzelhandelsketten nahmen Shetland-Lachs sofort aus dem Verkauf. Heute sind die Preise um 10 bis 20 Prozent unter das Niveau vor der Takerkatastrpophe rerutscht. „Derzeit zahlen wir drauf, um Euch mit Lachs zu füttern“, sagt Duncan.

Rund 3.000 Arbeitsplätze hängen auf Shetland von Fischfang und Lachszucht ab; es ist der mit Abstand größte Beschäftigungsbereich. 1991 setzte die gesamte Industrie 85 Millionen Pfund um. Der Fischfang aber bereitet den Fischern Sorgen, denn seit acht Jahren sinkt das Fangvolumen. Dafür sind im gleichen Zeitraum die Erträge aus der Zucht kontinuierlich gestiegen, aber wie es mit dem Lachs weitergeht, ist ungewiß. In der Verbotszone sind zwar inzwischen die ausgewachsenen Lachse von einer norwegischen Firma herausgefischt und zu Futter für Zuchtnerze verarbeitet worden, aber noch schwimmt jener Lachs in den Käfigen, der im Frühjahr 1992 eingesetzt wurde und ab Herbst „geerntet“ werden könnte. Untersuchungen ergaben, daß die Wasserqualität den ursprünglichen Zustand wieder erreicht hat und die Fische praktisch schadstoffrei sind. Doch nicht nur George Duncan fragt sich, was wird, „wenn mit den Stürmen das Öl wiederkommt?“.

Die ShetlanderInnen hassen diese Fragen, die ihnen ihre Hilflosigkeit wieder vor Augen führen. Aber noch mehr hassen sie die Bittstellerrolle, in die sie der Tanker brachte. Jahrhundertelang haben sie hier oben gelebt, auf diesen unwirtlichen Inseln, und sich von niemandem dreinreden lassen. Der ständige Kampf mit dem Meer, dem sie alles abringen mußten, hat sie geprägt, hat sie hart gemacht und gleichzeitig ein starkes Gleichheitsgefühl unter ihnen entstehen lassen. Daß sie jetzt in der Commercial Street in Lerwick anstehen müssen, wo Fred Hurley im Auftrag der Skuld-Versicherungsgesellschaft und des IOPCF ein Büro zur Schadensregelung betreibt, ist ihnen zutiefst zuwider. Dabei haben sie noch Glück. Denn der Rechtsweg ginge über US- amerikanische Gerichte – vor denen aber wurde noch keine einzige der 19.000 Entschädigungsklagen im Zusammenhang mit der Exxon Valdez verhandelt. Und die Lachszüchter wissen sehr gut, daß es 14 Jahre dauerte, bis im Fall der Amoco Cádiz der letzte Rechtssstreit entschieden war.

Immerhin scheint es derzeit möglich, daß zumindest ein Großteil der Schäden beglichen werden kann. Allerdings mußte der Lachsfarmer-Verband sechs Wochen lang kämpfen, bis seinen Mitgliedern eine Kompensation für die Notschlachtung der kontaminierten Lachse zugesagt wurde, und von einer Entschädigung für den langfristigen Imageverlust wollten Skuld und IOPCF gleich gar nichts wissen. Die 3,5 Millionen Pfund, die der Verband für eine neue Marketing-Kampagne forderte, gehörten nicht zu den „unmittelbaren ökonomischen Folgen“, argumentierten sie. „Wir wissen nicht, woher wir nun das Geld nehmen sollen“, kommentiert Alistair Goodlad diese Entscheidung, „wir sind ohnehin schon pleite.“

Es ist schon eine große Ironie. Jahrhundertelang sind die Shetlander zur See gefahren, in jedem Hause findet man einen, der bei der britischen Handelsmarine war, solange es diese noch gab. All ihr Wissen, all diese Kentnisse um die Tricks und Schliche der kapitalistischen Seefahrt hatte die Bevölkerung eingesetzt, um den Ölhafen Sullom Voe im Norden Mainlands zum sichersten Hafen Europas zu machen. Seit Beginn der neunziger Jahre ist aber auch dieser Ruf in Gefahr. Kapitän George Sutherland, Marinedirektor des Shetland Island Council, fiel auf, daß immer mehr Schiffe in immer schlechterem Zustand den Hafen anliefen, alarmierte den Inselrat, der Inselarat alarmierte London, forderte kurzfristig die Radarüberwachung des Tankerverkehrs, eine Fahrverbotszone um die Shetlands, bessere Sicherheitsbestimmungen für alle Schiffe und langfristig schärfere Regeln für die internatioanale Schiffahrt. Doch davon will in London niemand etwas wissen. Schließlich ist die internationale Schiffahrt in genau jenem Zustand, in den die britischen Regierung die eigene Wirtschaft versetzen wollte – nämlich völlig unreguliert.

Schon vor dem Tankerunglück hatten die ShetlanderInnen Sorgen genug. Was wird aus der Fischerei, wenn sich die billigere Ostkonkurrenz durchsetzt und die Fanggründe weiter leergefischt werden? Was wird aus der Inselwirtschaft, wenn die Ölgesellschaften in 10 oder 20 Jahren die Förderung in der Nordsee einstellen?

Sechs Monate nach der Havarie kann niemand die Folgen abschätzen, aber immerhin: Das seinerzeit auf so wundersame Weise verschwunde Öl wurde vom staatlichen Marinelabor in Aberdeen gefunden. Mehr als ein Viertel der Braer-Ladung, etwa 10.000 Tonnen, bedecken rund 80 Quadratkilometer Meeresboden vor Burra, genau dort, wo George Pottinger das Öl bei Westwind gerochen hatte. Schätzungsweise 12.000 Tonnen lagern südöstlich der Fair Isle. Welche Auswirkungen das hundert Meter tief gelegene Öl auf die Fische hat, kann auch John Davies vom Marinelabor nicht beurteilen. Kommt das Öl wieder hoch? „Vielleicht nicht, es wird ja von Bakterien zersetzt.“ Wie lange geht das? „Dafür gibt es keine Anhaltswerte.“ Mehr Erfahrung mit dem norwegischen Öl der Braer hat da Kurt Oddekalv von der norwegischen Umweltorganisation Naturvaernforbundet, den die britische Zeitung Guardian Mitte Januar zitierte: „Wir nennen das Unterwasseröl. Leichtöl setzt sich erst auf dem Seeboden ab und kommt Monate später wieder hoch.“