■ Mitgliederbefragung bei der SPD: Verlegenheitslösung oder ein Weg aus der monotonen Krise der Partei?
: Die Strafe der Basokratie

Stell Dir vor, es ist Mitgliederbefragung, und keiner geht hin. Hans-Ulrich Klose, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, versuchte gestern noch einmal in letzter Minute, diese Schreckensvision abzuwenden und seine Genossinnen und Genossen mit mahnenden Worten an die Urnen zu treiben. Es sei keinesfalls unwichtig, warnte Klose, ob sich dreißig, vierzig oder gar fünfzig Prozent der Parteimitglieder an der Abstimmung über die Nachfolge Björn Engholms als Bundesvorsitzender der SPD beteiligten. Waren schon Kloses Erwartungen, die noch unter der üblichen Beteiligung einer schlecht besuchten Kommunalwahl liegen, äußerst bescheiden, so lagen beispielsweise in Berlin die parteieigenen Prognosen bezüglich der Stimmfreudigkeit nur bei fünfzehn Prozent.

Aber selbst wenn wir annehmen, daß beispielsweise in der Parteiorganisation Berlin-Lichtenberg mit ihren dreihundert Mitgliedern die Zahl der an der Abstimmung teilnehmenden Genossinnen und Genossen die Zahl der Parteiaktivisten übertrifft, die auf dem Sozialistenfriedhof im gleichen Bezirk ruhen; ja selbst wenn wir unterstellen, (verläßliche Ergebnisse werden uns leider erst nach dem Redaktionsschluß dieser Ausgabe vorliegen), es geben tatsächlich fünfzig Prozent der Mitglieder ihre Stimme ab: Was geschieht in dem nicht unwahrscheinlichen Fall, daß die Entscheidung zwischen der Pfälzer Schlaftablette, der ewig-jugendlich-kämpferischen Juso-Frau und dem Hannoveraner Draufgänger knapp ausfällt? Dann könnte der oder die neue Bundesvorsitzende mit weniger als zwanzig Prozent der Stimmen aller Mitglieder den Sieg davontragen. Eine überzeugende demokratische Legitimation ist ein solches Ergebnis nicht, sondern die Entscheidung einer aktiven Minderheit über die lethargische Mehrheit.

In einem solchen Falle wäre nicht zu befürchten, sondern zu erwarten, daß die Personaldiskussion in der SPD nicht das erhoffte Ende finden wird. Bei knappem Ergebnis könnten die Delegierten des für den 25. Juni in Essen angesetzten Parteitages sich über die Stimme der Basis hinwegsetzen, befand Johannes Rau bereits. Andere SPD-Protagonisten verlangten hingegen, daß sich die Delegierten in jedem Falle dem Urteil der Basis unterwerfen müßten, so als wären sie an ein imperatives Mandat gebunden. Experten der Basisdemokratie werden darin verschiedene Eigenheiten dieser zeitweise kultisch verehrten politischen Organisationsform wiedererkennen. Aktivistische Minderheiten setzen sich durch; Entscheidungen werden hinausgezögert und zu spät getroffen; dafür ist die Diskussion ebenso undurchschaubar wie permanent.

In Sachen Basisdemokratie erfahrene oder gar leidgeprüfte Zeitgenossen — wie es beispielsweise viele Mitarbeitende dieser Zeitung sind — konnten deshalb von Anfang an beim Betrachten der basisdemokratischen Übungen der SPD eine von Mitleid abgemilderte Häme nicht unterdrücken. Etliche Jahre, nachdem die grünen Protagonisten der Basisdemokratie deren eherne Prinzipien wieder verschrottet haben, entdeckte die SPD aus purer Ratlosigkeit ihr Herz für ebendiese politischen Prinzipien.

Die SPD ist mit der ihr eigenen Geschwindigkeit in den frühen achtziger Jahren angelangt. Wer so spät kommt, darf nicht jammern, wenn ihn die Basokratie bestraft. Michael Sontheimer