Die Abschreibung der Natur

Bei der UNO sind seit 1988 Konzepte für eine umweltbezogene Ergänzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in Arbeit  ■ Von Carsten Stahmer

Die internationale Diskussion über geeignete Konzepte für eine Erweiterung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen um Umweltaspekte ist in den letzten Jahren sehr lebhaft gewesen. Im November 1988 wurde von den Vereinten Nationen und der Weltbank der Entschluß gefaßt, daß vom Statistischen Amt der Vereinten Nationen ein Handbuch erstellt wird, das Konzepte für ein umweltbezogenes Ergänzungssystem zu den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, ein sogenanntes Satellitensystem, darstellen soll.

Ein Entwurf dieses Handbuchs, das die konzeptionellen Grundlagen dafür enthält, wurde im Juni 1992 auf der Rio-Konferenz vorgestellt. Das Handbuch selbst soll 1993 veröffentlicht werden.

Das Satellitensystem wird darin als System for Integrated Environmental and Economic Accounting (SEEA) bezeichnet. Als deutsche Übersetzung wird „Integrierte Volkswirtschaftliche und Umweltgesamtrechnung“ verwendet.

Das vorgesehene Berichtssystem umfaßt drei Darstellungsebenen, die miteinander verknüpft werden:

– In einer ersten Darstellungsebene geht es um die umweltrelevante Untergliederung der monetären Daten der traditionellen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Dazu gehört der Nachweis der Umweltschutzaktivitäten und anderer defensiver Maßnahmen und die Erstellung von Vermögensbilanzen für das Naturvermögen.

– In einer weiteren Darstellungsebene werden nichtmonetäre Angaben über die wirtschaftliche Nutzung der Umwelt gezeigt.

– Die dritte Darstellungsebene schließlich umfaßt alle zusätzlich erforderlichen monetären Daten des Systems zur Bewertung der Umweltbelastungen durch die Wirtschaft.

Bei der zusätzlichen Bewertung der ökonomisch bedingten Umweltbelastungen sind zwei Fragestellungen möglich:

– Sollen die Umweltbelastungen, die von den Wirtschaftstätigkeiten eines Landes in der Berichtsperiode ausgehen, unabhängig davon bewertet werden, wann und wo sie sich auf die natürliche Umwelt auswirken? Oder

– soll der Zustand der natürlichen Umwelt in einem Land in der betreffenden Berichtsperiode mit seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung Bewertungsgrundlage sein, unabhängig davon, durch wen und wann dieser Umstand bewirkt wurde?

Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind nötig, weil die Wirkungszusammenhänge zwischen Wirtschaftstätigkeiten und der Umweltsituation komplexer werden. Immer häufiger sind die Wirkungen länderübergreifend und treten erst mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen ein.

Im SEEA steht die Verantwortlichkeit der Wirtschaftssubkjete für Umweltbelastungen im Vordergrund. Daher werden die Bilanzen der Verursacher um bisher unberücksichtigte Kostengrößen für die von ihnen bewirkten Umweltbelastungen erweitert, unabhängig davon, wann diese Belastungen zum Tragen kommen und ob sie das eigene Land betreffen. Das Prinzip der Verantwortlichkeit trifft heutzutage vor allem die Industrienationen, die durch ihren hohen Ressourcenverbrauch und die Umweltverschmutzung in erheblichem Maße das Naturvermögen der Entwicklungsländer vermindern. Eine langfristig angelegte Umweltpolitik der Industrienationen kann daher nicht allein die Umweltsituation im eigenen Land berücksichtigen, sondern muß auch länderübergreifende, häufig sogar globale Wirkungen einbeziehen.

Bei der Beschreibung der Wirkungszusammenhänge zwischen Wirtschaft und Umwelt werden die Kosten der Umweltbelastungen bei den Verursachern von (potentiell) schädigenden Einflüssen auf die natürliche Umwelt verbucht. So wird die Entnahme von Bodenschätzen beim Bergbau, der Abbau von Pflanzen- und Tierbeständen bei der Land- und Forstwirtschaft nachgewiesen. Die Zerstörung der Landschaft wird bei den unmittelbaren Verursachern gebucht.

Ebenso werden die Umweltbelastungen durch Schad- und Reststoffe den Sektoren zugeordnet, bei denen der Übergang dieser Stoffe in die Umwelt stattfindet. In allen diesen Fällen können als Verantwortliche für die umweltbelastende Produktion auch die inländischen oder ausländischen Nachfrager der betreffenden Güter angesehen werden.

In den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen wird zwar die Wertminderung der Produktionsmittel (wie Maschinen oder Fabrikgebäude) in Form der Abschreibungen berücksichtigt, nicht aber die Wertminderung bei der Nutzung des Naturvermögens. Werden Bodenschätze abgebaut, so gehen in die Kostenüberlegungen nur die Extraktionskosten ein, nicht aber der Verlust an natürlichem Vermögen, der sich dadurch für spätere Generationen ergibt. Markante Beispiele sind das sogenannte Abfischen der Weltmeere oder die Abholzung der Tropenwälder. Eine andere Nutzungsform des natürlichen Kapitalstocks besteht in der Verwendung der Umwelt als Auffangbecken für Abfallstoffe.

Es wird daher im SEEA vorgeschlagen, die Verminderungen von Quantität und Qualität des natürlichen Kapitalstocks in ein gesamtwirtschaftliches, ökologisch orientiertes Rechnungswesen als zusätzliche Kostengröße bei den Verursachern (Produzenten oder Konsumenten) einzuführen. Als Kosten dieser Güter wird der Betrag angesetzt, der nötig gewesen wäre, um den gesamten Bestand in der Berichtsperiode unverändert zu erhalten. Der neue Einkommensbegriff dürfte nur die Restgröße umfassen, die sich bei einer Erhaltung des gesamten reproduzierbaren und natürlichen Kapitals ergeben hätte.

Diese Größe, die im SEEA als Eco Domestic Product bezeichnet wird, könnte im deutschen Sprachgebrauch mit „Ökoinlandsprodukt“ übersetzt werden. Das Ökoinlandsprodukt könnte wie folgt berechnet werden:

Produktionswert (Wert der produzierten Güter)

– minus Vorleistungen (Verbrauch von Gütern)

ergibt das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen

– minus Abschreibungen (Wertminderung des reproduzierten Sachkapitals)

ergibt das Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen

— minus Wertminderung des nichtproduzierten Naturvermögens als Folge der wirtschaftlichen Aktivitäten in der Berichtsperiode, darunter:

a) Quantitative Verminderung z.B. der Bodenschätze und des Bestandes an Pflanzen und Tieren

b) Qualitative Verschlechterung der natürlichen Umwelt (Umweltmedien, Landschaft, Ökosysteme) durch Änderungen der Landnutzung und durch Abgabe von Rest- und Schadstoffen

ergibt das Ökoinlandsprodukt.

Der Nachweis des Ökoinlandsprodukts führt nicht zu einer Änderung der in den Gesamtrechnungen nachgewiesenen Einkommen. Es wird im SEEA vorgeschlagen, eine mögliche Verringerung der so berechneten Einkommen durch einen Ausgleichsbetrag zu vermeiden, der als Ökomarge bezeichnet wird. Die Ökomarge kann als eine Art fiktiver Subvention angesehen werden, die den Wirtschaftsbereichen von der natürlichen Umwelt zufließt.

Die SEEA soll in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Umweltökonomischen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes verwirklicht werden. Dies setzt aus unserer Sicht drei Aktivitätsschwerpunkte voraus, die parallel in Angriff genommen werden sollten:

– Fortsetzung der Arbeiten an den Konzepten,

– Ausbau der statistischen Datenbasis,

– schrittweise empirische Realisierung.

Die Realisierung des SEEA erscheint so drängend, daß nicht gewartet werden kann, bis alle konzeptionellen Probleme gelöst sind und die Datengrundlage in jeder Hinsicht befriedigend ist. Sinnvoll erscheint es, zunächst das vorhandene Datenmaterial möglichst vollständig auszuwerten und damit Teilbereiche des SEEA zu bearbeiten, die in konzeptioneller Hinsicht keine oder geringe Schwierigkeiten bieten.

Erste Berechnungen im Rahmen der SEEA liegen inzwischen vor. Sie betreffen vor allem monetäre Größen im Zusammenhang mit dem Umweltschutz, Angaben über Luftschadstoffe, die durch den Energieverbrauch bedingt sind, sowie Informationen über den Rohstoffverbrauch. Die geplante schrittweise Realisierung des SEEA bedingt, daß es in absehbarer Zeit keine vollständige Erfassung aller wirtschaftlichen Umweltnutzungskosten und damit auch keine umfassende Korrektur des Bruttoinlandsprodukts in Richtung Ökoinlandsprodukt geben wird.

Die methodischen und statistischen Schwierigkeiten sollten allerdings alle an den Berechnungen beteiligten Institutionen nicht entmutigen. Vielmehr sollten gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um möglichst bald ein klareres Bild von der notwendigen Umstellung auf eine umweltverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise zu vermitteln und um darüber hinaus festzustellen, wie weit wir davon mit unserer heutigen Wirtschaftsweise noch entfernt sind.

Dr. Carsten Stahmer ist Leiter der Gruppe „Input-Output-Rechnung, Vermögensrechnung und Satellitensysteme“ im Statistischen Bundesamt. 1989 bis 1992 erarbeitete er einen Entwurf für das UN-Handbuch „Integrated Environmental and Economic Accounting“.