Der Kraftprotz Kinkel stürzte rasch

Erster Abwurf für den neuen FDP-Chef / Er redet wie ein Konservativer, und die Linksliberalen verehren ihn / „Wenn er geführt wird und alle das Maul halten, kann er es schaffen“  ■ Aus Münster Hans-Martin Tillack

Klaus Kinkel amtiert gerade einen Tag als FDP-Chef, da führt er seinen Parteifreunden vor, wie leicht er aus dem Sattel zu werfen ist. Es passiert am Samstag beim geselligen Abend im Pferdezentrum Münster. Leichtsinnig gesteht Kinkel, er habe in seiner Tübinger Studentenzeit die Reiterei betrieben. „Rauf aufs Pferd, rauf aufs Pferd“, rufen prompt einige Jungliberale.

Kinkel, der passionierte Kraftprotz, streift das Sakko ab, läßt sich ein Pferd vorführen – und wird von dem wilden Tier gleich wieder abgeworfen. Im zweiten Anlauf bleibt er oben sitzen. Freilich verdonnern Helfer jetzt das Publikum zum Schweigen und führen Roß und Reiter an der Leine durch die Arena.

„Wenn er geführt wird und alle das Maul halten“, lästert ein Liberaler, „dann schafft er es.“ Pech für Kinkel: Die Szene in der Reithalle paßt viel zu gut zu den Schwierigkeiten, die er mit seiner Partei und seine Partei mit ihm zu erwarten hat.

Daß die stets streit- und intrigensüchtigen Freidemokraten wenig geneigt sind, über Fehler ihres neuen Vorsitzenden schweigend hinwegzugehen, zeigte sich schon bei Kinkels Antrittsrede am Samstag vormittag.

Die Fähigkeit zur öffentlichen Rede zählt nicht zu den Begabungen des neuen Vorsitzenden. Das wußten die Delegierten schon vorher. Dennoch gibt kaum einer gute Noten für die Einstandsrede, in der es von schiefen Metaphern, Platitüden und Kirchentagsrhetorik nur so wimmelte.

Der neue Oberliberale spricht von einem „wichtigen Stein“, der ins Wasser geworfen wurde, von Sozialleistungen „aus der Steckdose“ und vom „Mensch“, der – natürlich – „im Mittelpunkt“ steht.

Ernsthafte Kritik an der Union hören die Delegierten nicht. Statt dessen polemisiert Kinkel gegen die Gefahr einer „grün-linken Erziehungsdiktatur“ und erhebt in bester Kohl-Manier „die Familien“ zum „Kernstück unserer Gesellschaft“.

Viel Lob bekommt dagegen Jürgen Möllemann für die „exzellente Rede“, zu der er am Vortag sein Grußwort als nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender ausbaute. Möllemann konnte vor seiner Schwippschwager-Affäre noch hoffen, in seiner Heimatstadt Münster selbst zum Parteichef aufzusteigen.

Nun beschränkt er sich auf den Versuch, dem siegreichen Rivalen die Show zu stehlen.

Bevor Hans-Dietrich Genscher von Kinkel aufgefordert werden kann, als Bundespräsident anzutreten, verschafft sich Möllemann diese Schlagzeile. Vor dem entscheidenden Abstimmungsgang über den Lauschangriff meldet er sich einige Sekunden schneller als Kinkel zu Wort und führt gegen die Wanze die „Konkurrenz der Grünen“ ins Feld. Kinkel spricht darauf auch. Doch er trägt mit weitschweifigen juristischen Ausführungen eher zur Verwirrung bei.

Ein Bundestagsabgeordneter sieht schon die Mehrheit gegen den Lauschangriff in Gefahr und schimpft lauthals über „diesen Kinkel-Scheiß“.

Unter den Linksliberalen, die sich heutzutage lieber „Rechtsstaatsliberale“ nennen, hat Kinkel trotzdem viele Verehrer. Sie rühmen die „Offenheit“, mit der er neuen Ideen entgegentrete und verweisen auf seine ökologischen und zuweilen auch sozialliberalen Bekenntnisse.

Daß Lambsdorffs marktliberale Knute nicht mehr droht, ist vielen viel wert.

Klingen Kinkels Plädoyers gegen den Lauschangriff weder überzeugt noch überzeugend, so hatte doch in seinem Windschatten die Justizministerin freie Bahn. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger konnte ihr Nein zur Wanze erst im Bundesvorstand und jetzt auch auf dem Parteitag durchboxen. Daß fast zwei Drittel der Delegierten mit ihr stimmten, hat trotzdem viele überrascht.

Die Parteibasis der FDP hat es offenbar statt, so sagt es ein Redner, schon wieder „in vorauseilendem Gehorsam Positionen ohne Not zu räumen“. Genauso der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Lüder. Die FDP sei bereits, schimpfte er, „bis an die Grenze des Erträglichen gegangen“, als sie der Einführung der Telefonüberwachung und von verdeckten Ermittlern zugestimmt habe.

Nebenbei hat der Parteitag in Münster auch eine kleine Innovation hervorgebracht. Am Vorabend der Versammlung gründeten etwa 50 Freidemokraten einen „Gesprächskreis Öko-Liberale“. „Firlefanz“, schimpften einige schnell.

Nicht so Klaus Kinkel. Er beehrte den Verein mit einem Besuch und rhetorischer Unterstützung. Lambsdorff dagegen, so wird kolportiert, habe einem ökoliberalen Europa-Abgeordneten prompt dessen Abschuß angekündigt, nachdem die kleine Gruppe einen sanft ökologischen Änderungsantrag zur Wirtschaftspolitik durchgesetzt hatte.

Allerdings: Der neue Parteichef ist nicht nur für Linke und Ökos offen, sondern auch für seinen Kanzler. Noch bevor der Parteitag über den Lauschangriff entschieden hat, deutet Kinkel vor den Mitgliedern des sozialliberalen Elbe-Kreises an, daß das Nein zur Wanze in Bonn eventuell keinen Bestand haben könnte.

Viele Konflikte hat die FDP in Münster vertagt, ebenso den programmatischen Aufbruch. Ein Delegierter spricht von einem „Harmonieparteitag“, ein anderer beklagt das bloße „Recycling“ jahrealter Ideen. Überall präsent ist die Angst vor der Konkurrenz der Grünen, die seit der Fusion mit dem Bündnis 90 noch gefährlicher geworden seien.

Auf eine ähnliche Blutzufuhr kann die FDP nicht hoffen. „Für einen Aufbruch bräuchte man neue Ideen“, sagt ein Bonner FDP- Mann leicht resignierend, „den kann man nicht einfach beschließen.“