Bürger beobachten das Fernsehen e.V.

■ 5. Folge: An offenen Fenstern stehend

Wohl dem, der früher bereits die schlimmsten Krisen, Durchhänger, Depressionen, Abstürze und Niederlagen erlebt hat – und von daher jetzt gewissermaßen Kapitalismus-gestählt daherkommt. („Die Börse“, auf n-tv, natürlich in ihren eigenen Worten) Früher, das war „vor der Wende“. Schon vor einem Jahr meinte Wochenpost- Redakteurin Jutta Voigt: Wer jetzt strauchelt, wird krank, wer heute eine Krankheit kriegt, der erliegt ihr auch gleich. („Talk im Tief“)

Vor allen erwischt es die, die materiell und statusmäßig etwas zu verlieren haben. („Vox populi“) Die anderen ertragen erst einmal noch mehr oder weniger alle Demütigungen: Neulich fiel z.B. mein Freund Ludwig, grad paßmäßig eingedeutschter Pole, zum Bauhilfsarbeiter umgeschult und nun bei einem Jungunternehmer im Osten, in Erkner, angestellt (welcher es bis Weihnachten zu einem eigenen BMW nebst Karibik-Urlaub bringen will) vom Dach eines bayrischen Bauherren. Als er aus der Betäubung erwachte, war das erste, was er hörte, daß sein Chef zu ihm runterrief: „Ist die Bohrmaschine heil geblieben?!“ Zu Hause, krankgeschrieben, fing Ludwig an zu philosophieren: „Nun, er ist der Chef und ich bin Sklave. Wenn es umgekehrt wäre, hätte ich mich anders verhalten? Würde ich nicht dieses Arschloch genauso triezen ...“ („Pleiten, Pech und Pannen“)

Immer öfter erfährt man neuerdings in der Kneipe oder am Telefon: Die oder der steht auch schon am offenen Fenster (man müßte ihm oder ihr helfen). Selbst so ein schon fast professioneller Optimist wie „Crack-Point-Charlie-Investor“ Mark Palmer meint: „Die nächsten vier Jahre werden äußerst hart werden in Berlin. Dann wird die Stadt aber mit New York, London, Paris und Istanbul aufgeholt und ebenfalls rund 12 Millionen Einwohner haben.“ Klingt beruhigend („Pressekonferenz“, Schamoni-TV). Während wir uns noch, wenn auch schon halbherzig, über Bundeswehr-„Projekte“ in Somalia ereifern („Tagesthemen“ v. 2.6.), bereiten sich in Wahrheit – „Genba“ auf japanisch – bereits immer mehr Leute auf ihren „Out- Of-Ehre-Einsatz“ vor: auch kleine „Lopez-Loipe“ genannt („Setz deine Baskenmütze auf, es wird kalt!“). Man muß dazu keinen echten Autokonzern führen oder sonstwie „Global Player“ sein („Spiegel-TV“), es reicht auch schon eine einfache Neuköllner Mieterhöhung hin, um diese Dinge in Gang zu setzen bzw. in Fahrt zu bringen.

Nehmen wir der Einfachheit halber tägliche 32 DM (eine Monatsmiete von 960 DM): dann benötigt man an einem normalen Arbeitstag schon stündlich vier Mark – allein für das nackte Dach über dem Kopf. Die Fernsehgebühr ist noch mal extra. Der Caritas-Verband hat in seiner Berliner Beratungsstelle gerade eine Studie erstellen lassen, in der von einem erschreckenden Anstieg der Obdachlosigkeit die Rede ist. („Unter deutschen Teppichen“, ARD) Gewiß, die „Willste mal 'ne Mark“-Typen haben ebenso zugenommen, auch wenn es noch nicht so weit ist wie in Kalkutta, daß sie einem bereits in der Schule beibringen, den jungen Menschen, die mit traurigen Darstellungen ihrer privaten Niederlagen in wenigen Stichworten ganze U-Bahnzüge unterhalten, immer reichlich zu geben. („Günter Grass im Dialog“, NDR)

Oben – in der prallen Sonne – fahren sie derweil wie die Besengten aufeinander los. („Die Verkehrspolizei rät“, ORB) In der taz kann man bald alle zehn Minuten ans Fenster gehen, weil es mal wieder irgendwo gekracht hat. Ein Stück weiter, bei den Schweinejournalisten, hatten sie in der B.Z.- Etage Ende Mai eine wirklich gute Idee, nachdem die Meldung bei ihnen aus dem Ticker gekommen war, daß in Charlottenburg eine Ägypterin, Mutter von zwei Kindern, und in Hohenschönhausen ein Ex-Vopo, dessen Verlobte nichts von seiner Trunksucht geahnt hatte, aus dem Fenster gesprungen waren. Die B.Z.-Redakteure wollten sich und uns die über 50 Mai-Selbstmorde („Und der Wonnemonat ist noch nicht zu Ende“) mit den im Frühjahr gehäuft auftretenden Liebespaaren im öffentlichen Raum erklären: ein Anblick, der den Depressiven oftmals quasi den letzten Rest gebe – Tödliche Küsse! („Paare, Passanten und Patienten“, ZDF)

Am Tag zuvor hatte bereits – zum selben, äh Thema – die taz- Kulturschaffende Gabriele Goettle einen ostdeutschen Amtsarzt zu Wort kommen lassen – ich wiederhole nur: „Die Selbstmordrate z.B. Die wurde früher unter Verschluß gehalten, und heute läßt sich's auch nur über den Daumen peilen. Wir haben heute den Eindruck, daß nervliche Störungen mit Krankheitscharakter stark zunehmen. Die Patienten kommen zu uns mit ganz spezifischen Symptomen, und wenn sie dann ihr Herz ausschütten, ist es immer das gleiche: Arbeitslosigkeit, keine Zukunftsvorstellungen, persönliche Probleme, Angst ... In der Regel haben sie ganz tiefe Depressionen ... Und so ist es mehr oder weniger bei uns in jeder Stadt. Aber auch hierbei können wir keinerlei verbindliche Aussage machen. Dabei gehören solche Sachen doch aufgeklärt, wie die seelischen Störungen durch die politische Gesellschaft und die materiellen Veränderungen sich auswirken. Aber will man das?“ („Bürgerrechtler fragen, Ordnungspolitiker antworten“)

Es gibt dazu einen klugen Gedanken vom sogenannten frühen Marx: „Der wirkliche Reichtum eines Menschen ist der Reichtum seiner wirklichen Beziehungen.“ (Günter Gaus, „Profile“) In der letzten Zeit habe ich öfter zwischen Europa-Center, KaDeWe und Kudamm-Karree einige japanische Kinder gesehen, die in diesen kommerziell-markanten Eckpunkten eines multi-kulturellen Dreiecks Computer spielen, Hamburger essen, T-Shirts kaufen, ins Kino gehen, Musik hören, usw. Von ihren Eltern mit dem nötigen Kleingeld ausgestattet, kompensieren dort – konsumistisch – viele Ausländer-Kinder ihre zu wenigen oder fehlenden Beziehungen. („Asiatikuß“, Offener Kanül) Und arbeiten sich auf diese Weise – doch auch irgendwie „kommunizierend“ – in die Gesellschaft ein. Aber es ist natürlich mühsam und nicht ausreichend: Das Interesse der Eisverkäufer gilt ja nicht ihnen als Person. („Markt im Dritten“)

Vor genau zwanzig Jahren war ich mal in eine Kudamm-Softeismaschinen-Bedienerin verliebt: Sie warnte mich wirklich noch ganz persönlich vor dem Genuß dieses Dreckzeugs. Heute ist sie verheiratet und hat zwei Kinder (in Dahlem). Das aber nur am Rande. („Nogger dir einen“, ZDF) Nach Dahlem wird aller Voraussicht nach die Selbstmordrate ganz zuletzt hinkommen. Wenn man mal die FU-Studenten außen vor läßt, die – als selbstmordgefährdete Bevölkerungsgruppe – gleich hinter den Ostdeutschen und den Simultanübersetzern rangieren. („Ratgeber Gesundheit“)

Grad hat übrigens unser taiwanesischer Rauschgift-Lieferant Selbstmord begangen: ein Autounfall bei Stendal, hieß es. Aber wir wissen es (natürlich) besser. („Die Husum-Connection“, NDR) Eigentlich wollte er in die Werbebranche einsteigen. Er sprach immer vom „communication-business“. Er redete überhaupt viel und gerne. Nicht diese zurückhaltende chinesische Höflichkeit. „Religion ist Opium-Ersatz fürs Volk“ – war sein Lieblingsspruch. Man konnte ihn sich gut und gerne bereits als Art Director oder wenigstens als Creative Substitute vorstellen. Sofern man von seiner stets gehetzten Aufmachung absah. Und seine Frisur hätte dazu natürlich auch etwas, öh, gepflegter sein müssen. Merkwürdigerweise vereinsamte er dann genau in dem Maße, wie er seinem Berufswunsch näher kam: d.h. je mehr und öfter er sich mit den Leuten aus dieser Kommunikationsbranche traf. Auch wurde er immer gelber im Gesicht. Wirklich wahr. („Kontraste“, SFB)

Wenn wir uns, zuletzt meist in einem dieser komischen, jetzt überall in Berlin-Mitte aber auch im taz-Haus entstehenden, Café- Bars trafen, versuchte ich, ihn mit irgendeinem blöden Spruch aufzuheitern – z.B. von Deleuze: „Heutzutage darf man nicht einfach miteinander reden, man muß kommunizieren!“ („titel, thesen, temperamente“)

Nichts gegen Werbung, aber daß das was mit Kommunikation zu tun hat, ist grober Unfug. Es sei denn, man verabredet sich ausgerechnet an einer bestimmten Litfaßsäule – und wird dadurch motiviert, unbedingt und sofort z.B. eine eisgekühlte Pepsi-Cola zu trinken, wie es mir tatsächlich schon ein paar Mal passiert ist. Zum Glück spielten meine Verabredungen jedesmal mit, ja, sie machten sich dann sogar mit mir gemeinsam Gedanken über Pepsi- Cola-Werbung im besonderen und Reklame im allgemeinen, wobei ich irgendwann auf mein Lieblingsthema, die Glühbirne – in Kunst und Werbung – zu sprechen kam: So daß man es also quasi mit einer rundum gelungenen „Kommunikation“ zu tun hatte. Aber so etwas ist die Ausnahme. („Aspekte“ mit Carola Wedel)

Die Regel ist doch, daß die Leute in der U- oder S-Bahn, wenn irgendjemand sie anspricht (sei es ein musizierender Rumäne, bettelnder Zigeuner, obdachloser HIV-Positiver, betrunkener Witzbold oder aggressiver Skinhead) sich sofort intensiv auf – etwa eine gereimte Anzeige am Fenster („Orje spricht zu Kulle: Willste noch 'ne Paech-Brotstulle?“) oder eine Werbung für Sprachunterricht („Verbessern Sie Ihr Kommunikationsvermögen!“) konzentrieren. Wenn sie nicht gleich das Abteil verlassen und am Bahnsteig auf den nächsten Zug warten – wo sie, bis der kommt, auch wieder nur die Plakatwände anstarren. („ZEN nach neun“, MDR) Mir fällt dazu Nietzsche ein: „Trinkt, O Augen/ Was die Wimper hält/ Von dem goldnen Überfluß der Welt!“ – Is' ein schönes Zitat, da gibt's nichts! Werbefuzzy Michael Schirner, auch taz-Berater, würde es gefallen.

Über dessen neuestes Buch sagt übrigens Hans Platschek: „Der Waschzettel nimmt bereits den Mund zu voll: Wenn Schirner sagt: ,Werbung ist die wirkliche Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts‘, dann meint er, daß die Werbung heute die Funktionen übernommen hat, die früher die Kunst hatte: die Vermittlung ästhetischer und konzeptueller Inhalte ins alltägliche Leben. – Abgesehen davon, daß Karl Kraus jenes Leben ,Die Plakatwelt‘ nannte: Nach der Lektüre des Buches von Schirner kommt einem Kierkegaard in den Sinn: ,Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, endet verwitwet‘.“ („Verbrannte Computerdichter“, RB)

Mir kamen dabei sofort die ganzen Mathias Horxe und Cora Stephans in den Sinn, die zwar nicht in Berlin leben – und hoffentlich auch nicht sonstwo am offenen Fenster stehen. Aber irgendwie derzeit doch arg verwitwet scheinen, das kann nur heißen: wesentlicher Talk-Shows beraubt. So etwas darf mittlerweile schwerwiegen. Für viele ist ja schon (oder noch?) „das Lagerfeuer des 20. Jahrhunderts“, also nicht der Sender, sondern bloß das Fernsehempfangsgerät, zur Lebensmitte geworden. Und der Hauptstreitpunkt bei den meisten in einer eheähnlichen Beziehung (Festplatte) ist, wer die Fernbedienung halten und benutzen darf. („Zappen – eine neue Sucht?“ Sat.1)

Neulich hat zwei Häuser weiter in unserer Straße ein dort lebender Gerüstbauer seinen Saufkumpan erschlagen, im Streit, weil sie sich nicht einigen konnten, welchen Videofilm sie sich zuerst reinziehen sollten. Anschließend hat er den Toten mit seiner Black & Decker- Kreissäge zu zertrennen versucht, um ihn in Plastiktüten aus dem Haus zu schaffen. Der Lärm der Säge hat dann die Nachbarn geweckt, die sich schließlich nicht anders zu helfen wußten und die Polizei alarmierten. („Einer für alle“, RTL-live)

Einer der Begründer der Soziologie, Emil Durkheim, sprach von „Anomie“. Dieser Begriff bildete den Kern seiner Hypothese, die eine Erklärung für wiederkehrende Muster in der statistischen Häufigkeit von Selbstmorden bieten sollte. „Die Arbeit über den Selbstmord markierte den Wendepunkt, an dem Durkheim, wie viele andere vor und nach ihm, von einer Haltung der Zuversicht und Hoffnung auf den Fortschritt der Menschheit zu einer Haltung zunehmender Zweifel am progressiven Charakter der Gesellschaftsentwicklung umschwenkte,“ sagt Norbert Elias. („Kultur aus Frankfurt“, HR) Durkheim wies nach, daß der Selbstmord am Zunehmen war, was er sich und den seinen mit der Zunahme von Anomie in der Gesellschaft erklärte. „So hatte sein Anomiebegriff von Anfang an wertende Implikationen,“ meint John L. Scotson – und kommt, zusammen mit Norbert Elias, zu dem Schluß: „Seitdem haftet der Anomie (und ,mangelndem Zusammenhalt‘) ein Hauch dieser Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit an – nach einer imaginären Vergangenheit, in der es keine ,Anomie‘ gab.“ („Oxford today“, BBC auf B1)

Dazu fällt einem doch sofort die momentane Verklärung der DDR-Vergangenheit, mit den vielen Freundschafts- und Kollegen- Kreisen, die es jetzt alle nicht mehr gibt, ein. Auch der ins Enorme gestiegene Alkoholkonsum in Polen. („Was das Ausland über sich denkt“, ARD-Korrespondenten berichten) Und dann die vielen verkniffenen Gesichter unter den öffentlichen Plätzen dieser Stadt. Man traut sich schon gar nicht mehr, einen halbwegs freundlichen oder komischen Fremden anzugrinsen. („z.B.: Wim Wenders“, W 3)

Wolfgang Neuss gab Lord Knuth vom Rias einmal den Tip: seine Morgensendung mit dem Spruch „Ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt!“ zu beginnen. Lord Knuth verpatzte jedoch die Pointe und sprach prompt wieder von „zurückgeschossen“. Kein Witz! Dieser, von Lord Knuth dann übrigens sofort dumpf korrigierte „Versprecher“ hat jedoch seine eigene Anomie: „Früher standen sich die Menschen näher, die Schußwaffen trugen nicht so weit.“

(Alexander Kluge und Heiner Müller, letzterer nickte zumindest zustimmend – im FAZ-Früstücksfernsehen. Komischerweise traten die beiden zur selben Zeit auch noch im S-Zett-Magazin „Klönschnack“ auf, und da ging es nun – wenig kohärent – völlig kontrovers zu: über Mommsens Straße, wo irgendwelche Treuhand-Manager, u.a. August van Joest, sich neuerdings eine Tiefgarage nach der anderen zuschanzen lassen, was viele Alt-Anwohner, die nicht einmal einen Behindertenparkplatz vor der Tür haben, noch mehr als die Wiedervereinigung verbittert.)