Zwischen den Rillen
: Seelendrama und Kalkül

■ Scherzo über zwei Interpretationen der „Großen Sonate für das Hammerklavier“ des „größten Tonsetzers der Menschheitsgeschichte“, Ludwig van Beethoven

In Wien, auf dem Grinzinger Friedhof, am Grab von Gustav Mahler, waren der Musikkritiker J. Kayserswerth und sein Gegenspieler, der Musiker und Gelegenheitskomponist Friedemund König, durchaus noch der gleichen Meinung gewesen. Mit großer Bewunderung sprachen sie über die 9. Sinfonie, Das „Lied von der Erde“, die Rückert- und Kindertotenlieder und die Sternstunden großer Mahler-Dirigenten mit ihren Weltklasseorchestern.

An Übereinstimmung herrschte, wie gesagt, kein Mangel; und die Begegnung der beiden hätte wahrscheinlich ein gänzlich undramatisches Ende genommen, hätte Kayserswerth nicht plötzlich und für Friedemund K. völlig unvermittelt den Satz ausgesprochen: „Ach ja, die Hammerklaviersonate ...“, und dann, nach einer bedeutungsschweren kurzen Pause, weiter: „eine heroische Verzweiflungstat ohnegleichen, gepaart mit einem Anflug von Größenwahn. Dies allerdings im besten Sinne des Wortes; und allein einem Claudio Arrau ist es wohl gelungen, dieses allergrößte unter den großen Meisterwerken der Klavierliteratur nicht bloß nur zu bewältigen, sondern mit Bravour zu meistern.“

Genau damit war nämlich das Stichwort für den mit allen Hammerklavierwassern gewaschenen Friedemund K. gefallen, der ja, wie in Künstlerkreisen allgemein bekannt, schon von frühester Jugend an niemals aus dem Haus, geschweige denn des Abends in sein Bett gegangen war, ohne die Noten der Hammerklaviersonate immer in greifbarer Nähe bei sich zu haben. Er, der statt einer Bibel immer nur den Text von op. 106 aufschlug und studierte; er, der die Hammerklaviersonate sogar rückwärts und auf den Kopf gestellt spielen konnte, und der, nach seinem Beruf gefragt, stets mit „Ich bin Hammerklaviersonatefanatiker“ antwortete – so jemand war natürlich nicht willens und imstande, die Meinung seines in dieser Hinsicht absoluten Erzfeindes J. Kayserswerth ohne Widerspruch hinzunehmen. „Und was ist mit Gould?“ zischte er gereizt. Worauf dieser ihm in einem etwas herablassenden Tonfall antwortete: „Nein, nein, mein Lieber, Gould in Ehren, aber hier wirkt er im Vergleich mit Arrau doch ein wenig zu blaß, zu uninspiriert.“

Friedemund König, der wegen dieser aus seiner Sicht ungeheuerlichen Behauptung Kayserswerths nun noch blasser im Gesicht wurde, als er durch sein kräftezehrendes Studium von op. 106 ohnehin schon geworden war, stammelte entsetzt: „Wären Sie bereit, diese skrupellose Behauptung am Grabe Beethovens zu wiederholen?“ Kayserswerth, der ja schon immer ein furchtloser Mann gewesen war, antwortete mit einem etwas altertümelnden „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich würde auch dort keinen Augenblick zögern ...“

Die beiden waren noch nicht ganz aus dem Grinzinger Friedhof heraus, um am Grabe Beethovens (der ja auf dem Zentralfriedhof beerdigt liegt) ihren Interpreten- und Hammerklaviersonatendisput fortzuführen, da heizte Kayserswerth die Diskussion erneut mit der Bemerkung an, daß das ganze Elend der Gouldschen Selbstherrlichkeit sich nirgends deutlicher als in seiner Interpretation der Klaviersonate op. 57 zeige, der sogenannten „Appassionata“ also. „Dieses langweilig-tröpfelnde Tempo, die unendlich lähmende Monotonie im Ausdruck, das völlig verrückte Mitsingen und Heulen und nicht zuletzt der knarrend-ächzende Klavierstuhl“ – dies alles führe wohl jedem klar vor Augen, daß hier die pure Zerstörungswut als leitendes Motiv für die gesamte Interpretation angesehen werden müsse. Friedemund K., der übrigens nie ein Freund der „Appassionata“ gewesen war, hatte jedoch nicht die geringste Lust verspürt, über etwas anderes als die Hammerklaviersonate zu reden, und schwieg deshalb beharrlich, bis sie an Beethovens Grab angelangt waren.

Nach einer Weile andachtsvollen Schweigens an der Ruhestätte des „größten Tonsetzers der Menschheitsgeschichte“ (so sprach Kayserswerth immer, wenn er von Beethoven sprach) belebte sich die Diskussion wieder ziemlich rasch, wobei Friedemund K. zu bedenken gab, daß Gould die Hammerklaviersonate eben von einem völlig anderen Blickwinkel aus beleuchtet habe. Ihm, also Gould, sei es ja vor allem um die Hörbarmachung der kontrapunktischen Vorgänge, also die einzelstimmlichen Verbindungen und Beziehungen gegangen. Und in keiner anderen Interpretation der Hammerklaviersonate könne man tatsächlich den Verlauf des musikalischen Geschehens so transparent gestaltet finden. Wohingegen bei Arrau alles aufs große Seelendrama ausgerichtet sei. „Natürlich ein nicht zu unterschätzender Aspekt“, aber er, Friedemund K., erachte die Interperation von Gould gerade darum als so bedeutend, weil sie die große Ausnahme von der allseits bekannten Regel sei und somit einen wichtigeren Beitrag zur Aufschlüsselung dieses ungeheuerlichsten aller Klavierwerke leiste. „Die Hammerklaviersonate“, fuhr K. fort, „ist ja eigentlich ebenso wie Bachs Kunst der Fuge ein Werk des Rückzugs. In dieser Hinsicht gibt es für mich bei diesen beiden Wunderwerken der Kompositionsgeschichte eine gewisse Art von geistiger Beziehung über den Notentext hinaus; und ebendiese Welten-des-Rückzugs-Zusammengehörigkeit wird bei Gould wie bei keinem anderen hörbar. ,Der Welt abhanden gekommen‘ unter Zuhilfenahme der Mathematik, wenn Sie so wollen, mein lieber Kayserswerth. Sehr bewegend, trotz oder gerade wegen des kontrapunktischen Kalküls.“

Gerade hatte Kayserswerth wieder das Wort ergreifen wollen, um Friedemund K. erneut die Majorität der Arrauschen Interpretation, man muß wohl sagen: eintrichtern zu wollen, als plötzlich der schwere Granitblock auf Beethovens Grab von unten beiseite geschoben wurde. Unter lautem Getöse kroch der „größte Tonsetzer aller Zeiten“ aus seinem Grab hervor, ging festen Schrittes auf Kayserswerth zu und faßte ihn unsanft beim Kragen. „Und was ist mit dem Adagio aus op. 2 Nr. 3, dem Largo e mesto, was mit den ,Eroica‘-Variationen und der ,Sturmsonate‘? Dies alles hat dieser kanadische Teufelsbursche doch viel besser gespielt, als ich es hätte mir je träumen lassen“, schrie Beethoven und fuchtelte dabei wild mit seinem Hörrohr herum. „Aber Er merke sich eines für die Zukunft“, so Beethoven weiter. „Dieser Gould ist der einzige, welcher in das ,Allegro di confusione‘ meines Hammerklavierhaushalts eine Haltung hineingebracht hat. Mit Ausnahme vielleicht des alten Solomon Cutner, wenn ich's recht überlege. Aber trotzdem, die ,Fuga‘, das kann doch tatsächlich nur dieser Satansbraten Gould.“ Erst danach ließ er von Kayserswerth ab und stieg grollend und Flüche ausstoßend wieder in seine Gruft hinab.

Es dauerte einige Zeit, bis Kayserswerth und Friedemund K. ihre Fassung wiedergefunden hatten. Beinahe im Laufschrit verließen sie den Zentralfriedhof und fuhren in die Josephstadt, ins Café Eiles, wo sie bis in den späten Abend hinein schweigend zusammensaßen. Später las ich dann in der Süddeutschen Zeitung einmal, daß der Kritiker Kayserswerth beabsichtige, ein neues Buch zu schreiben, mit dem Titel „Die Hammerklaviersonate in der Interpretation von Glenn Gould“. Die Zeitung schrieb dann noch, „daß das Buch auf nachdrücklichen Wunsch Ludwig van Beethovens entstehen werde“, was die Leser naturgemäß für einen dieser überspannten Werbegags gehalten haben. Harald R. Rey

Hörempfehlung:

Glenn Gould plays Beethoven: Sonata in B-flat op. 106, Music and Arts Programms of America Inc., CD-617 (Aufnahme aus 1967)

Claudio Arrau Collection: Beethoven, Sonate Nr. 29 in B- Dur, op. 106 „Hammerklaviersonate“, CD-432 665-2 (Aufnahme aus 1963)