Idées fixes

Zeichnungen des Konzeptkünstlers Sol LeWitt im Landesmuseum Münster  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Mehr als 400 Blatt liniertes und schraffiertes, bezeichnetes und bemaltes Papier – das will zunächst einmal mit den Augen bewältigt werden. Aber immerhin erhebt die Ausstellung auch den Anspruch, dem Konzept-Kunst-Klassiker Sol LeWitt eine Retrospektive zu widmen. Fürs sinnliche wie fürs geistige Auge wird die Arbeitsweise eines Künstlers veranschaulicht, der sich selbst – trotz aller theoretischen Übungen und Überlegungen – eher als Mystiker denn als Rationalist bezeichnet.

Der 1928 geborene Amerikaner begann als Grafiker und Mitarbeiter des Architekten I.M. Pei. Ende der 50er Jahre wandte er sich der Malerei zu, ab 1962 arbeitete er mit freistehenden Objekten. Der Kubus wurde zu seiner idée fixe, und auch über den Würfel hat er einen theoretischen Text verfaßt. Zwei andere, inzwischen nahezu legendäre Texte – „Paragraphs on Conceptual Art“ (1967) und „Sentences on Conceptual Art“ (1969) – begründeten seinen Ruf als Namensgeber der Konzept-Kunst. In ihr werden Idee und Pläne vorab gefaßt und sämtliche Entscheidungen getroffen, ehe es zur Ausführung eines Werks kommt. Diese ist bloß noch ein rein mechanischer Akt. Nicht umsonst überläßt LeWitt anderen die Herstellung seiner größeren Arbeiten. Allerdings scheut er vor der letzten Konsequenz zurück, die einige Künstler der jüngeren Generation wie Lawrence Weiner und Stanley Brouwn gezogen haben: die bloße Idee unter Verzicht auf deren Ausführung.

Die Retrospektive der Zeichnungen von 1958–1992 eröffnet mit den Bildern der Achtziger und beginnenden Neunziger – und das Überraschende gleich vorweg: LeWitt malt, LeWitt benutzt Farben, und die Titel dieser späten und spätesten Bilder sagen auch schon alles: „Irregular Forms“. Polygonale Flächen oder Zickzack- Wellenlinien, deren Farben freilich immer noch mit gleichmäßigem Pinselstrich nebeneinander gesetzt wurden. Schwarze Übermalungen, bei denen nur an den Rändern schmale Farbstreifen sichtbar bleiben, wie die Negativ- Version der „Edge-Paintings“ von Sam Francis. Sterne, vom Drei- zum Neunzack, in den Farben Rot- Gelb-Blau. Obwohl diese Bilder ausgesprochen verspielt wirken, bestimmt letztlich auch hier ein Prinzip jegliches Vorgehen, eine erkennbare Regel.

Die Suche nach solcher Regelhaftigkeit prägte bereits das Frühwerk und den Kopisten der klassischen Vorbilder. In seinen Studien nach Velazquez, Piero de la Francesca oder Goya löst LeWitt die Figuren in geometrischen Formen (Dreieck, Quadrat, Trapez) auf. Von da aus führt sein Werk zur konsequenten Reduktion der Form, von der Variation bis zur seriellen Ausschöpfung aller Möglichkeiten und Ansichten eines vorgegebenen Konzepts. Zum Beispiel eine Zeichnung aus fünfzehn aneinander gereihten Rechtecken, deren Binnenraum mit parallelen Linien ausgefüllt ist. Sie werden nacheinander „addiert“, überlagert, so daß die letzte Kolumne sämtliche Möglichkeiten zu einer dichten Schraffur verschmilzt. Zugleich führt die Zeichnung eine präzise Steigerung von Grauwerten vor („Lines and Combinations on Lines“, 1969).

Das Durchspielen sämtlicher Möglichkeiten hat LeWitt auf eine Spitze getrieben, die irgendwo zwischen technischer Zeichnung, räumlichem Intelligenztest und graphischem Alphabet liegt („Schematic Drawing for incomplete open Cubes“, 1974; „Tilted Forms“, 1987). Und in der Tat war sein erklärtes Ziel, ein Vokabular und eine Syntax für die Kunst zu entwickeln. Das führte ihn bis zum Sprachspiel, zur Regel, die ins Bild eingeschrieben und damit integriert wurde. Oder der Titel des Bildes war zugleich die Anweisung für seine Herstellung, sein Ordnungsprinzip („A Square Divided Horizontally and Vertically into four Equal Parts, each with a different Direction of Alternating Black and White Bands of Lines in one of four Directions“, 1980).

„Die Idee wird zur Maschine, die Kunst macht“, lautet ein Satz in „Paragraphs on Conceptual Art“. LeWitts Arbeiten sind visuelle Experimente, das zeigt sich an den Zeichnungen noch deutlicher als an seinen Skulpturen.

Einziges Manko der Ausstellung: ihr Zuviel. Statt eines guten Dutzend Studien der Frühzeit hätten drei oder vier genügt. Vor allem aber die Skizzen und Werkszeichnungen für Skulpturen-Projekte lassen einem die Augen tränen. Vieles wird auf den letzten Metern dieser Rückschau dünner und dünner: vom Strich her wie von der Qualität. Doch ansonsten: ein gelungener Seh-Test.

Sol LeWitt: „Drawings 1958–1992“ im Westfälischen Landesmuseum Münster. Noch bis zum 27. Juni. Der Katalog kostet 38 DM.