Beißen sich AKWs die Zähne aus

Analyse von Milchzähnen soll über radioaktive Belastung aufklären / Atomkraftwerksbetreiber werfen dem Leiter des Otto-Hug-Strahleninstituts Unwissenschaftlichkeit vor  ■ Von Inga Grigoleit

„Es ist schon auffällig, mit welch heftiger Kritik das Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim (GKN) gegen die Milchzahnstudie des Otto-Hug-Strahleninstitutes wettert“, bemerkt der Leiter des Instituts, Professor Edmund Lengfelder, lakonisch zu einer kritischen Pressemitteilung des GKN. Vor rund zwei Jahren hatte der Münchener Arzt und Strahlenbiologe das Milchzahn-Projek ins Leben gerufen. Aus den seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl verstrahlten Gebieten Weißrußlands, der Bundesrepublik und dem benachbarten Ausland sollen dem Otto-Hug-Strahleninstitut Milchzähne von in diesem Gebiet lebenden Kindern zur Analyse eingeschickt werden.

In der auf lange Dauer angelegten Untersuchung wird nicht nur die Strontium-90-Belastung der Kinder in den durch den Reaktorunfall besonders betroffenen Gebieten erfaßt: In Deutschland soll außerdem die radioaktive Grundbelastung, die noch aus den atmosphärischen Atomwaffentests herrührt, geprüft werden. Dabei könnten sich auch, so Lengfelder, Hinweise auf radioaktive Verseuchung in der Umgebung von Atomkraftwerken ergeben.

Und genau das scheint den Kritikern der Milchzahn-Studie aus den Kreisen der Atommanager ein großer Dorn im Auge zu sein. Noch vor den Kernkraftwerksbetreibern aus dem Ländle hatten sich die Betreiber des Kraftwerks Krümmel, dessen Umgebung wegen des dramatischen Anstiegs kindlicher Leukämien mittlerweile traurige Berühmtheit erlangt hat, zu Wort gemeldet. Sie hatten sich gegenüber dem örtlichen Verein „Eltern für unbelastete Nahrung“ gegen die Milchzahnuntersuchung als Diagnosemöglichkeit von radioaktiven Belastungen ausgesprochen.

Aus Neckarwestheim verlautete, das Ganze sei „unwissenschaftlich“ – im übrigen sei es einfacher und zuverlässiger, den Strontiumgehalt des Erdbodens zu bestimmen.

Strontium 90, das chemisch dem Calcium ähnlich ist, wird in den Knochen eingelagert und belastet dort durch seine energiereiche Strahlung insbesondere das rote Knochenmark – die Bildungsstätte der Blutzellen. Die in den Milchzähnen gemessene Radioaktivität ist somit ein Indikator für die radioaktive Belastung der Nahrung und der Einlagerung von Strontium in den Knochen.

Zahn- und Knochenuntersuchungen im Zusammenhang mit radioaktivem Fallout wurden in Deutschland und verschiedenen Ländern bereits vereinzelt durchgeführt – was nicht gemacht wurde, war eine wie von Lengfelder projizierte flächendeckende Untersuchung. Die wiederum ist Grundlage für den wissenschaftlichen Zweck des Projekts: „Wir sind auf eine thematische Kartographie aus, die die Verbreitung der betastrahlenden Nuklide am Beispiel der Belastung von Zähnen optisch verdeutlicht.“ Mit der Analyse der eingeschickten Milchzähne soll eine Art Base-Line als Bewertungsgrundlage des Gehalts an betastrahlenden Nukliden in der deutschen Bevölkerung geschaffen werden.

Trendmeldungen will der Münchener Strahlenbiologe noch nicht abgeben – aus gutem Grund. Zwar liegen dem Strahleninstitut bereits Zähne und einige Untersuchungsergebnisse vor – es wäre jedoch „ein fataler wissenschaftlicher Fehler“, so Lengfelder, aus der Analyse der einzelnen Zähne Rückschlüsse zu ziehen. „Die Wissenschaftlichkeit dieser Untersuchungen zeichnet sich überdies dadurch aus, daß sie nicht Erwartungen weckt und dramatisiert.“

Mit spektakulären Ergebnissen rechnet man ohnehin nicht: Die Erwartungswerte liegen im Bereich von zehn bis hundert Millibecquerel pro Gramm Calcium. Sollten sich in einigen Fällen Abweichungen von diesen „Durchschnittswerten“ ergeben, könnten auf der Grundlage der noch zu erstellenden Kartographie Rückschlüsse zum Tschernobyl-Fallout oder zu eventuellen „Strahlenquellen“ in der Nachbarschaft geschlossen werden.

Lengfelder hält deshalb die Heftigkeit, mit der das Milchzahn- Projekt von Kernkraftwerksbetreibern kritisiert wird, für völlig unverständlich.

Für Professor Roland Scholz, Mitglied der Expertenkommission Kiel zur Aufdeckung der Leukämiefälle in der Elbmarsch, allerdings sind die Argumente des Kernkraftwerks am Neckar gegen die Milchzahnsammelaktion eine großangelegte Kampagne gegen Lengfelder, die das Ergebnis einer in der Presse lancierten Falschmeldung seien. Sie stamme „nach der in der Leukämie-Fachkommission in Kiel vorliegenden Dokumentation aus Wissenschaftskreisen, die sich als Fahnenträger der Atomindustrie bereits einen Namen gemacht haben“.

Das Verhalten der Kraftwerksbetreiber in puncto Milchzahnsammelaktion vergleicht Scholz ironisch mit dem Zitat des Beraters der Bayerischen Staatsregierung in Sachen Wackersdorf, Professor Klaus Rüdiger Trott, anläßlich eines energiepolitischen Gesprächs in der Bayerischen Staatskanzlei anno 1986: „Man sollte sich dem öffentlichen Druck, große epidemiologische Studien durchzuführen, unbedingt widersetzen. Solche Untersuchungen [gemeint war: im Umfeld von Wackersdorf] schaffen nur Probleme. Entweder man findet nichts – dann hat man es vorher gewußt: man kann übrigens auch gar nichts finden –, oder man findet, wie in Sellafield, doch etwas – dann hat man sehr große Schwierigkeiten, einen solchen Zufallsbefund wieder wegzudiskutieren.“