■ Die SPD-Befragung als Anfang vom Ende der Parteikrise
: Auf der Suche nach Konsens

Rudolf Scharping, das wandelnde Dementi des Enkel-Hedonismus, wird SPD-Vorsitzender. Er kann sich dabei auf eine Legitimation stützen, die gleich in zwei Richtungen produktiv wirkt. Das Votum von fast einer halben Million SPD-Mitgliedern ist ein unmißverständlicher Dämpfer gegen jede Neigung, das Gerangel der Brandt-Nachfolge-Generation um Rang und Einfluß fortzusetzen. Die Mitgliederbefragung ist der Anfang vom Ende der Führungskrise, aus der die SPD in den letzten drei Jahren nicht herausfinden konnte. Durch die Partei ist zudem ein Ruck gegangen, der weit über sie hinaus wirksam werden könnte. Der Politikverdruß der Bürger, das zeigt die unerwartet große Beteiligung, ist keineswegs identisch mit politischem Desinteresse. Wenn die Parteien sich öffnen, dann können sie auf ihre Mitglieder wieder bauen. In diesem Sinne liefert die Mitgliederbefragung ein lebendiges Stück Innovation der Parteiendemokratie. Einmal erfolgreich erprobt, ruft es geradezu nach Wiederholung bei anderen Gelegenheiten.

Der Neue beginnt also auf neuen Fundamenten. Und sonst? Scharping, seit zwei Jahren erst Ministerpräsident in einem Land von nicht gerade überragender Bedeutung, 45 Jahre alt, immer in der zweiten Reihe hinter den weit interessanteren Gefährten, gilt vielen aus seiner eigenen Generation als Rückfall hinter die Modernisierungserfolge der späten 80er Jahre. Mag sein, nur können die eben nicht die Grundlage für die 90er sein. Und Rudolf Scharping scheint unter den Enkeln der einzige, der dies wirklich begriffen hat.

Diese Gesellschaft sucht händeringend nach Konsens. Nicht anders als die anderen westeuropäischen Länder durchläuft die Bundesrepublik seit einem guten Jahrzehnt Modernisierungsprozesse, die befreien – von Zwängen und von Bindungen, die Sicherheit gaben. Im Unterschied zu Frankreich, England oder anderen westeuropäischen Nachbarn finden sich die Bundesbürger zudem völlig überrascht in einem sozial tief gespaltenen Land wieder. Das Paradeland für soziale Stabilität fühlt sich gleich doppelt und dreifach von Desintegration und Zersplitterung heimgesucht. Jeder weiß oder ahnt es zumindest, daß die Bundesrepublik an ihre Grenzen gekommen ist und mit den alten Gewohnheiten nicht weiterkommt. Die Veränderungen aber fallen schwer; dem Teil der Bevölkerung, der den alten Trott liebt, ohnehin. Aber auch unter den beweglicheren Schichten der Bevölkerung und denen, die an den Modernisierungs- und Reformdebatten der 80er Jahre teilgenommen haben, herrscht eine reservierte Skepsis. Denn alles findet unter anderen als den erhofften Bedingungen statt.

Das überbordende Gegeneinander in der Gesellschaft verträgt das bedingungslose und fortgesetzte Gegeneinander der politischen Kräfte nicht mehr. Der knallharte Kampf um die Macht, den Gerhard Schröder versprochen hat, ist altmodisch geworden, zeitgemäß dagegen: in und mit allen Lagern den Kompromiß zu suchen. Nicht mehr die Innovation durch einzelne Querdenker, durch die mobilen Kräfte am Rande der Gesellschaft ist angezeigt. In den nächsten Jahren wird es darum gehen, das Grundgefüge der Republik neu auszutarieren, und das verlangt Politiker mit Bedacht, mit Augenmaß für die Interessen der Kerngruppen, mit Sinn für Zusammenhalt, eben solche wie Scharping. Tissy Bruns