Die erbosten Bauern von Sichuan

Chinas Landbevölkerung protestiert immer häufiger gegen überhöhte Abgaben und Korruption / Gefälle zwischen Stadt und Land, reichen Küstenprovinzen und dem Landesinneren  ■ Von Werner Meißner

Hongkong (taz) – In der Provinz Sichuan im Westen Chinas ist es zu Bauernunruhen gekommen. Mehr als 10.000 Bauern haben am 3. und 6.Juni Regierungsämter im Kreis Renshou belagert und angegriffen, berichtet die Hongkonger Presse. Sie schlugen Polizisten und Angehörige der lokalen Regierung, blockierten Straßen und zündeten Autos an, darunter auch zwei Polizeiwagen. Anlaß der Unruhen ist nach Angaben eines Sprechers der Provinzregierung der Bau der Staatsstraße „213“, 80 Kilometer südlich der Provinzhauptstadt Chengdu, den die Bauern mitfinanzieren sollten. Diese Gelegenheit nutzten die zuständigen Kader, um überhöhte Abgaben einzutreiben.

Bereits im Januar hatte es dort erste Protestaktionen gegeben. Dann, Ende Mai, sollen über 10.000 Bauern mit Stöcken, Sensen und Steinen gegen Funktionäre der Regierung vorgegangen sein.

Die Unruhen sind kein Einzelfall: Nach vertraulichen Statistiken des Ministeriums für Innere Sicherheit kam es 1992 insgesamt zu 540 Demonstrationen und illegalen Versammlungen, 480 Streiks und 75 Angriffen auf Regierungs- und Parteiinstitutionen. Führend war die Provinz Sichuan mit 40 Demonstrationen und 38 Streiks, gefolgt von Jiangxi – dem alten Basisgebiet der KP Chinas – mit 52 Streiks und Demonstrationen.

Andere Quellen berichten von über 100 Protestaktionen von Bauern im zweiten Halbjahr 1992. Betroffen waren neun Provinzen: Sichuan, Anhui, Guizhou, Jiangxi, Hunan, Hubei, Shanxi, Guangxi und Shaanxi. In 15 Kreisen versuchten Bauern, den Sitz der Kreisregierung zu stürmen. „Die Kommunistische Partei wird von den Bauern ernährt, die Kommunistische Partei betrügt die Bauern.“ riefen sie.

Was sind die Gründe für diese Unruhen? Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Stadt und Land, zwischen reichen Küstenregionen und den Provinzen in Zentral- und Westchina nimmt gefährliche Ausmaße an. Während die industrielle Wachstumsrate 1992 bei zirka 20 Prozent gelegen haben soll, stieg die landwirtschaftliche Produktion nur um 3,7 Prozent. Seit vier bis fünf Jahren stagniert oder sinkt das Einkommen der Bauern, und das bei hohen Inflationsraten von zur Zeit offiziell 17 Prozent.

Zudem hat der Staat aufgrund der hohen Investitionen in die Industrialisierung zuwenig Geld, um den Bauern das Getreide zu bezahlen. Anstelle von Bargeld erhielten sie lediglich Schuldscheine. Schuldscheine bedeuten einen Inflationsverlust. Bereits Ende 1992 spitzte sich die Lage dermaßen zu, daß die Parteiführung beschloß, alle Schuldscheine bis Mitte Januar einlösen zu lassen. Ein Teil wurde in Postanweisungen umgewandelt. Als die Ämter die Anweisungen nicht einlösten, stürmten im Kreis Nanchong in Sichuan die Bauern die Postämter. – Der dritte Faktor ist die epidemisch um sich greifende Korruption der Kader sowie die Erpressung durch lokale Behörden und Polizei. Nach chinesischen Presseberichten erheben viele Behörden unrechtmäßige Abgaben, um die eigenen Taschen zu füllen. Lokale Regierungen setzen Strafquoten fest, die die Polizisten erfüllen müssen, um die Kasse aufzubessern. Finanzielle Mittel für die Landwirtschaft werden von den Regierungen für Investitionen in Sonderwirtschaftszonen zweckentfremdet. Kriminelle haben offensichtlich Zugang zu Polizei- und Militäruniformen. Wie in den 20er und 30er Jahren treten Steuereintreiber in Gruppen mit Polizeiknüppeln auf, um das Getreide und das Geld abzuholen.

Neben den Bauern entsteht ein weiteres Unruhepotential: Umherstreifende Wanderarbeiter, mangliu genannt. Sie stammen meistens vom Lande. Ihre Zahl wird inzwischen auf über 100 Millionen geschätzt. Sie sitzen in jeder Stadt an den Straßenrändern und bieten ihre Arbeitskraft an. Sie gehören zu keiner Danwei, keiner „Einheit“ mehr, der bisherigen Grundorganisation für alle Chinesen. Das heißt, sie unterliegen auch keiner sozialen und politischen Kontrolle. Sie können und werden sich daher selbst organisieren, wobei man annimmt, daß vor allem die Geheimgesellschaften unter ihnen großen Zulauf finden. Damit bilden die mangliu einen gefährlichen sozialen Sprengstoff.

Ebenfalls unzufrieden sind die städtische Intelligenz und die kleinen und mittleren Angestellten. Viele können sich nur durch mehrere Jobs gleichzeitig über Wasser halten.

Der Aufbau von sozialem Konfliktstoff vollzieht sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Schwächung der zentralen politischen Entscheidungsorgane, die sich aus der Dezentralisierung der Wirtschaftsstrukturen ergeben hat. Die wachsende Autonomie der Provinzen und lokalen Behörden scheint dabei dem Mißbrauch Tür und Tor zu öffnen. Trotz der Anweisungen Pekings, das schnelle Wachstum der Wirtschaft vor allem auf dem Investitionssektor zu zügeln, verhalten sich die boomenden Provinzen, als wären sie bereits unabhängig. Die alten Instrumente der Machtausübung und Kontrolle funktionieren kaum noch, und Strukturen einer neuen politischen Ordnung sind noch nicht erkennbar.

Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, bis zu welchem Grade Peking in der Wirtschaftspolitik noch Kontrolle über ganz China auszuüben vermag.