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Operation Schadensbekämpfung

Auch die Tschechische Republik kommt die Teilung der ČSFR teuer zu stehen / Außenhandel mit Slowakei und EG eingebrochen  ■ Aus Prag Sabine Herre

Milka-Schokolade, Danone- Joghurt, Johnny Walker und Ariel – wer in den langen Jahren der Husàkschen „Normalisierung“ in den Genuß dieser „kapitalistischen Konsumprodukte“ kommen wollte, mußte sich in Prag schon für dreißig Minuten in die Straßenbahn setzen und in einen Supermarkt an den Rand der Stadt fahren. Gut drei Jahre nach der „samtenen Revolution“ trinkt nicht nur die ganze tschechische Hauptstadt Tchibo-Kaffee, inzwischen haben die Westwaren die einheimische Produktion auch im kleinsten Tante-Emma-Laden in die hintersten Regale verdrängt. Nur tschechisches Salz hat noch keine ausländische Konkurrenz erhalten.

So sah sich Anfang Mai der tschechische Minister für Handel und Industrie, Vladimìr Dlouhy persönlich genötigt, der von links wie rechts kritisierten Entwicklung Einhalt zu gebieten. Die Zahlen über den jüngsten Produktionsrückgang von 7,8 Prozent in den ersten drei Monaten 1993 noch druckfrisch auf dem Tisch, gab er den Startschuß für die Kampagne „Kauft tschechische Waren“. Da die einheimischen Lebensmittel nach einer Untersuchung der Warenkontrolleure den importierten um nichts nachstehen, sei es nun an der Zeit, die Euphorie für alles Ausländische aufzugeben. Selbst die Mitglieder der Regierung sollten von nun an auf Mercedes und BMW verzichten und statt dessen in den heimischen Tatra steigen.

Die Minister konnten sich für die Forderung ihres Kollegen jedoch nicht gerade begeistern. Schließlich gehörte es zum Credo der Regierung, dem Markt freien Lauf zu lassen. Und da man in den letzten Wochen mit Nachdruck den EG-Protektionismus kritisiert hatte, wollte man jetzt nicht selbst zu ähnlichen Methoden greifen.

Doch das hatte der Handelsminister auch gar nicht vor. Er wollte vielmehr auf die dramatische Entwicklung der Handelsbilanz aufmerksam machen. So hatte sich im Vergleich mit 1992 und ohne den Warenaustausch mit der Slowakei der tschechische Import im ersten Vierteljahr um 21 Prozent erhöht, der Export war dagegen um drei Prozent zurückgegangen.

Aber auch mit diesen ernüchternden Zahlen fand Dlouhy wenig Zustimmung. Wirtschaftsminister Karel Dyba wertete den Importzuwachs als „kurzzeitiges“ Phänomen: Da bei der Teilung der Tschechoslowakei mit einer Abwertung der Krone gerechnet worden sei, hätten viele Unternehmer auf Gewinne mit rechtzeitig importierten Waren spekuliert. Da jedoch bereits im letzten Jahr die Einfuhr aus den EG-Staaten um 30 Prozent, die Ausfuhr dagegen nur um 20 Prozent gestiegen war, sah sich die Regierung unter Ministerpräsident Václav Klaus zumindest zu einer Debatte über exportfördernde Maßnahmen veranlaßt.

Noch dramatischer jedoch entwickelt sich der Rückgang des Handels mit der Slowakei, die von der Bundesrepublik inzwischen als wichtigster Handelspartner überholt wurde. In die ehemalige Teilrepublik ging bisher ein Viertel des gesamten tschechischen Exports, in den ersten beiden Monaten des Jahres 1993 verringerte sich das Handelsvolumen um 48 Prozent auf 15,6 Milliarden Kronen.

Der Grund für den Rückgang des Handels liegt nach Ansicht des Vize-Handelsministers Vaclav Petřička in der schlechten Zahlungsmoral. Auch drei Jahre nach Beginn der Wirtschaftsreformen ist das Problem der Verschuldung der Staatsbetriebe nicht gelöst. Konkrete Zahlen sind allerdings schwer zu erhalten: Während die Prager Regierung angibt, daß slowakische Betriebe mit rund 15 Milliarden Kronen bei ihren tschechischen Partnern in der Kreide stehen, wissen die Slowaken nur von 3,8 Milliaren.

Verschärfen könnte sich die Lage für die tschechischen Betriebe, wenn die slowakische Regierung ihre Ankündigung, trotz Zollunion einen Einfuhrzoll zu erheben, tatsächlich wahrmachen sollte. Denn auch in Bratislava ist man davon überzeugt, daß viele ausländische, das heißt auch tschechische Waren durch einheimische Produkte ersetzt werden könnten. So ist der Export tschechischer Molkerei-, Fleisch- und Weinbetriebe schon fast zum Erliegen gekommen. Überdurchschnittlich betroffen ist auch die tschechische Maschinenbauindustrie, die in erster Linie Endprodukte in der Slowakei absetzte. Behindert wird der Export außerdem durch die Abwertung der slowakischen Krone: Für 100 tschechische Kronen müssen seit Auflösung der Währungsunion bis zu 110 slowakische Kronen gezahlt werden.

Um das Problem der gegenseitigen Verschuldung zu lösen, denkt man in Prag über eine Verrechnung im Rahmen der sich seit Monaten hinziehenden Verhandlungen über die Aufteilung des tschechoslowakischen Besitzes nach. Die tschechischen Betriebe sollen zudem durch ein im Juni angelaufenes „Modell des gegenseitigen Ausgleichs“ entschuldet werden. Mit Hilfe eines Computer-Programms, in dem die Daten von mehreren zehntausend Betrieben eingespeichert werden, sollen Schulden und Ausstände, die die tschechischen Betriebe in einem komplexen Netz miteinander verbinden, verrechnet werden. Da das Handelsministerium annimmt, von 120 Milliarden ausstehenden Kronen zwischen 20 und 60 Milliarden abgleichen zu können, glaubt man, damit die befürchtete Bankrottwelle staatlicher, aber auch bereits privatisierter Betriebe verhindern zu können.

Das Ausbleiben der Konkurse sowie die trotz des Produktionsrückgangs gleichbleibende Beschäftigungszahl sind auch die Hauptgründe für die mit 2,8 Prozent weiterhin niedrige Arbeitslosigkeit in der Tschechischen Republik. Die höchsten Arbeitslosenraten melden mit fünf bis sechs Prozent Nordböhmen und Nordmähren, wo die Industriestruktur weiterhin von Kohle und Chemie bestimmt wird. In Prag dagegen wird inzwischen von Vollbeschäftigung gesprochen. In der „goldenen Stadt“, die der Staatskasse im vergangenen Jahr eine Milliarde US- Dollar an Einnahmen aus dem Tourismus bescherte, wurden vor allem im privaten Dienstleistungsbereich neue Arbeitsplätze geschaffen. Landesweit sind inzwischen über 100.000 TschechInnen in der Privatwirtschaft beschäftigt. Allein die Zahl der Bankangestellten wuchs um 44 Prozent.

Die Situation in den staatlichen Unternehmen ließ die Regierung jedoch auch über einen kaum ins programmatische Konzept passenden Schritt nachdenken. Nachdem festgestellt wurde, daß in vielen Betrieben der Lohnzuwachs die Inflationsrate um mehr als fünf Prozent übertreffen, wollte man Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einer Einführung einer Lohnregulierung im staatlichen Sektor überreden. Nicht zum erstenmal wurde dabei jedoch deutlich, daß die oft belächelte Gewerkschaftsunion die Politik der konservativen Regierung Klaus durchaus beeinflussen kann: Die Lohnregulierung wurde erst einmal verschoben.

Der monetaristische Premier muß sich aber auch an seine früheren theoretischen Aussagen erinnern lassen. Zwar sei die erste Welle der Kupon-Privatisierung nahezu problemlos verlaufen, heißt es, mit der organisatorisch bedingten Verschiebung der zweiten Runde werde die Entstaatlichung jedoch unnötig verzögert. Obwohl Klaus eine Industriepolitik stets abgelehnt habe, sei sein Kabinett ständig damit beschäftigt, Probleme der Betriebe zu lösen.

Tatsächlich scheint Klaus einen Teil seiner früheren Eindimensionalität verloren zu haben. Widmete er sich als Finanzminister vor allem seinem Lieblingsthema Inflation, geht es ihm mehr und mehr um die Lage der Betriebe. Doch für diesen Wandel hat Klaus natürlich eine Erklärung parat: Seiner Ansicht nach sind die makroökonomischen Fragen der Wirtschaftsreform inzwischen gelöst. So kann er sich nun ganz der Mikroökonomie zuwenden.

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