Genossen zelebrieren Basisdemokratie

Unabhängig von den personellen Präferenzen herrschte bei den SPD-Spitzen Freude über die rege Beteiligung der Basis am neuen „Modell der innerparteilichen Demokratie“. Über eine Kanzlerkandidatur Rudolf Scharpings gedeihen die Gerüchte.

Als Johannes Rau schließlich vor die Kameras trat, wirkte er gelöst und bester Dinge. Schon eine dreiviertel Stunde war in den Räumen des Erich-Ollenhauer-Hauses durchgesickert, wer die Mitgliederbefragung gewonnen hatte. Während Bundesgeschäftsführer Karl-Heinz Blessing noch Ergebnis für Ergebnis aus den Bezirken vortrug, sprach der Interims-Chef der SPD mit den Kandidaten. Streitbar ist es dabei bestimmt nicht zugegangen, denn das Votum der Mitgliedschaft war unzweideutig. Rau, dessen leise Vorliebe für Scharping wohlbekannt ist, brauchte den beiden Unterlegenen den Verzicht gar nicht erst nahezubringen. Heidemarie Wieczorek- Zeul und Gerhard Schröder zogen, wie vorher angekündigt, ihre Kandidaturen zurück. Für den Parteitag werden Präsidium und Parteivorstand nur eine Empfehlung geben – mit den Stimmen von Schröder und Wieczorek-Zeul.

Das Ergebnis ist für den Parteitag am 25. Juni in Essen bindend, de facto haben also die Mitglieder bestimmt, wie ihr neuer Vorsitzender heißen soll. Ganz unabhängig von den personellen Präferenzen war die Freude über das neue „Modell der innerparteilichen Demokratie“ (Rau) ungeteilt. Im Gasthof „Zur Harmonie“ hatten die Wahlhelfer des Ortsvereins Bonn-Mitte gegen fünf Uhr dem Mitglied entgegengefiebert, mit dem die 50-Prozent-Grenze überschritten würde. Stolz verkündeten die Besucher der abendlichen Veranstaltung in der Parteizentrale die Beteiligungszahlen aus ihren Ortsvereinen, die fast wichtiger waren als das Abschneiden der Kandidaten. Renate Schmidt, die bayerische SPD-Vorsitzende, erklärte in München, daß die SPD einen Schritt in „Richtung zur verbindlichen Urwahl in den wichtigsten Personal- und Sachfragen“ gegangen sei. Und wenn die FDP, wie umgehend geschehen, dementiert, daß so etwas für sie in Frage käme, zeigt das nur, daß sie beeindruckt ist. Insgesamt könne sich die Skepsis gegen Plebiszite verringern, vermutete der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Helmuth Knütter, der allerdings auch feststellte: „Man wird nicht jedes politische Problem so lösen können.“

Ihre Probleme hat die SPD mit der Mitgliederbefragung in der Tat nicht hinter sich gelassen. Kaum war das Personalproblem Nummer eins gelöst, da schwirrten in ganz Bonn schon die Spekulationen über das nächste. Mitgliederbefragung als Modell auch für die Kanzlerkandidatur? Ja, aber Sinn macht das doch nur bei konkurrierender Kandidatur. Hat Scharping sich mit Lafontaine nun abgesprochen oder nicht? Vor und während der Sitzungen von Prasidium und Parteivorstand am Montag war nichts Verbindliches zu erfahren. Oskar Lafontaine machte gegen sonstige Gewohnheit nicht einmal eine launige Bemerkung, als er ohne Stellungnahme für die Kameras ins Ollenhauer-Haus ging. Daß Scharping sich einer Kanzlerkandidatur nicht verweigern und das erste Wort haben will, schafft auch noch keine Klarheit. Schröder empfahl dem Sieger, treu seiner eigenen Linie der Ämterkonzentration, nun auch als Kanzlerkandidat anzutreten. Daß er selbst auch noch einmal zur Debatte stehen könnte, davon wollte Schröder gestern jedenfalls nichts hören.

Bei soviel Mangel an Klarheit gedeihen die Gerüchte. Sicher, meinte einer aus dem Ollenhauer- Haus, Lafontaine würde gegen Scharping antreten, wenn der nun selbst Kanzlerkandidat werden wolle – und würde gewinnen. Der künftige Vorsitzende wird sich überlegen müssen, welche Wahl ihm das Mitgliedervotum überhaupt läßt. Ein Teil seiner Wähler sieht ihn im Gespann mit Kanzlerkandidat Lafontaine, dem anderen, vielleicht dem größeren, dürfte genau davor grausen. Tissy Bruns, Bonn