Statt Sekt gab's Flaschenbier und Frikadellen

■ Am Abend seines Triumphes machte Rudolf Scharping aus seiner „Provinzialität“ eine Tugend: „Bodenständigkeit“ und „Grundsatztreue“ seien Eigenschaften, die überzeugten

Nehmen wir einmal an, Oskar Lafontaine hätte sich am Sonntag auch um das Amt des SPD-Parteivorsitzenden beworben und am Abend das überzeugende Votum der Basis mit nach Saarbrücken nehmen können. Dann wären dort Hunderte von Schampuskorken an die Stuckdecken geknallt, Lafontaines Spitzenkoch im Range eines Ministerialdirigenten hätte ein toskanisches Buffet kreieren dürfen, und über die Lautsprecheranlage der Staatskanzlei wäre Beethovens 9. Symphonie erklungen: „Freude, schöner Götterfunke!“

Oskar Lafontaine hat aber nicht kandidiert. Und der Sieger der ersten Urwahl bei der SPD heißt Rudolf Scharping. „Freude, schöner Götterfunke?“ Mitnichten. Im großen Sitzungssaal der SPD- Landtagsfraktion in Mainz war eher verhaltene Stimmung angesagt: Statt Sekt gab's Selters, statt italienischem Buffet Fleischwurst, Landjäger, Frikadellen und Flaschenbier. Erst gegen 21.30 Uhr, als feststand, daß ihr Ministerpräsident die Urwahl gewonnen hatte, ließ die Fraktion vier (!) Flaschen Wein auffahren.

Kanzlerreife Sätze gab der Kandidat schon unmittelbar nach Abschluß der Mitgliederbefragung in den Ortsvereinen zum besten: „Wer als erster durch's Ziel geht, hat gewonnen.“ Und als Scharping dann um exakt 22 Uhr als Sieger vor die Kameras trat, dankte er der Basis und Johannes Rau, der „in schwierigen Wochen in ungewöhnlich fairer und menschlich anständiger Weise“ der Partei gedient habe. Warum ausgerechnet „ER“ – so nennen ihn seine Bodyguards ehrfurchtsvoll – bei dieser Urwahl die Nase vorn hatte, konnte „ER“ sich selbst auch nicht erklären. Scharping: „Das Ergebnis überrascht mich. Ich habe nicht mit diesem Erfolg gerechnet.“ Das klare Votum sei aber eine „saubere Grundlage für eine ordentliche und solidarische Zusammenarbeit in der Partei“. Und er habe jetzt die Chance, auf dem Bundesparteitag in Essen für „Verbindlichkeit“ des Votums zu sorgen. Kein Beifall und kein Jubel bei den MitarbeiterInnen der Fraktion und aus der Staatskanzlei. Nur ab und an stumme Gratulationen von gestandenen Männern mit Sektgläsern voller Lagerbier.

Wie die angestrebte „Verbindlichkeit“ hergestellt werden soll, war dann dem designierten Parteivorsitzenden auch durch hartnäckiges Nachfragen nicht zu entlocken. Erst nach dem Essener Parteitag am 26. Juni, so Scharping, werde die Parteispitze ein Verfahren zur Kanzlerkandidatenfindung festlegen. Ob die Parteimitglieder nach Essen erneut an die Wahlurnen gebeten werden, um auch den Kanzlerkandidaten der Partei zu küren, wollte Scharping weder dementieren noch bestätigen. Es könnte aber „sinnvoll sein“, so Scharping, „in allen Fällen, in denen es sinnvoll erscheint, die Mitglieder zu befragen“.

„Vergeßt mir den Mainzer nicht“, soll Willy Brandt kurz vor seinem Tod und mit Blick auf die „Enkel“ gesagt haben. So will es eine in Mainz kursierende Legende. Daß sich Scharping am Sonntag vor einem Foto mit einem nachdenklichen Willy Brandt in Szene setzte, war eine trotzige Geste: „Ich kann zupacken“, sagte Scharping vor laufenden Kameras. Und weil er im parteiinteren Wahlkampf mehrfach als „konturloser Provinzler“ charakterisiert worden war, macht er am Abend seines Triumphes aus seiner „Provinzialität“ eine Tugend. „Bodenständiges arbeiten“ zeichne ihn aus, „Grundsatztreue“ und Verbundenheit mit den „Alltagserfahrungen“ der Menschen. Daß Scharping nicht – wie etwa Schröder – mit dem Mailänder Industrieadel (Pirelli) ständigen Umgang pflegt, ein „klares Helles“ dem prickelnden Champagner vorzieht und beim Volkswandern herzhaft und gerne in die Bockwurst beißt, habe ihn bei „all den kleinen Leuten in den Ortsvereinen“ zum Favoriten avancieren lassen, sagen seine MitarbeiterInnen in der Staatskanzlei. Und als Beleg dafür führen sie die Voten für Scharping in den neuen Bundesländern und im Ruhrpott an: „Die wollten keinen aus der Toscana-Fraktion an der Spitze der Partei sehen, sondern einen Mann, mit dem sie sich identifizieren können.“ Daß das alleine nicht ausreichen wird, um Helmut Kohl im Bundestagswahlkampf Paroli bieten zu können, weiß auch Scharping. Und die Grünen im rheinland-pfälzischen Landtag sehen schon ein neues Problem auf die Sozialdemokraten zukommen: „Die SPD wird zukünftig vor dem Dauerproblem stehen, den kleinen Unterschied zwischen Scharping und Kohl erklären zu müssen.“ Deshalb will Scharping sein Profil und das seiner Partei schärfen: Die Konturen des vorhandenen Images müßten herausgearbeitet werden, sagte der sichtlich gestreßte Parteivorsitzende in spe vor seiner Flucht vor den Medien in Richtung Toilette. Sarkastischer Kommentar eines Zivilpolizisten am Fleischwurstbuffet: „Da hat der Mann aber ordentlich was zu tun.“ Klaus-Peter Klingelschmitt, Mainz