: Aufschlag, Westfalen
Rasentennisturnier im ostwestfälischen Halle: die Bonsai-Variante von Wimbledon ■ Aus Halle Karl-Wilhelm Götte
Tennis-Übersättigung? Keine Spur. Das Geschäft mit dem gelben Filzball blüht grenzenlos. Selbst oder gerade in der ostwestfälischen Provinz, in Halle (18 Kilometer nordwestlich von Bielefeld) lohnen sich Millioneninvestitionen. Das erste ATP-Rasenturnier auf deutschem Boden, die kleine Kopie des großen Wimbledon, wird mit insgesamt 60.000 Zuschauerinnen und Zuschauern bereits als „ausverkauft“ vermeldet. 42 Unternehmen zahlen unter dem wahrlich originellen Motto „Aufschlag, Westfalen“ rund fünf Millionen Mark in die Kasse, und das Fernsehen mit dem ZDF (30 Stunden live) vorneweg „jauchzt“ bereits seit Samstag abend gewaltig auf.
„Gerry Weber Open“ nennt sich das Spektakel in der ansonsten verschlafenen Kleinstadt (19.000 Einwohner) am Südhang des Teutoburger Waldes unweit des Mediengiganten Bertelsmann. Gerry Weber ist Textilfabrikant. Mit einem Jahresumsatz von 310 Millionen Mark ist er hierzulande bis dato nur die Nummer zehn der Branche. Doch der Macher des „aufsehenerregendsten Tennis- Projektes der letzten Jahre“, so Becker-Manager Ion Tiriac, wähnt sich bereits auf dem unaufhaltsamen Marsch an die Spitze: „Jetzt haben wir Gerry Weber oben.“
Was selbst den schnauzbärtigen Tennis-„Guru“ so nachhaltig beeindruckt, ist die Tatsache, daß Weber, für den einst Steffi Graf (1986-88), damals noch für ein jährliches Salär von 500.000 Mark, und Katrin Krabbe (der Vertrag lief 1992 wegen der Doping-Affäre aus) Litfaßsäule spielten, innerhalb eines Jahres ein 50 Millionen Mark teuren Tennis- und Sportkomplex aus dem Boden stampfte.
Gerry Weber – ein Verrückter? Keineswegs. Der 52jährige Vorsitzende des Regionalligisten TC Blau-Weiß Halle („Da war Tennis nur Hobby, heute ist das für mich ein knallhartes Geschäft.“) denkt langfristig. Der Zehnjahresplan („Da stecken keine Firmengelder drin, mein Partner Udo Hardieck und ich bezahlen das alles aus der Privatschatulle sowie aus Aktienerlösen.“) sieht bereits nächstes Jahr ein Anheben des Preisgeldes von momentan drittklassigen 375.000 auf eine Million Dollar vor.
Ein Frauen-Turnier soll dazukommen und Gesangsstars wie Placido Domingo und José Carreras sollen auf dem 9.200 Zuschauer fassenden Centre Court ihre Stimme zum besten geben. Ein 200-Betten-Hotel für 25 Millionen Mark wird im Mai 1994 fertig sein. Mit einem Dumping-Angebot (die Anlage gibt es für den DTB zum Nulltarif) hat Gerry Weber erst einmal die Metropolen Hamburg, München und Dortmund düpiert und sich das Davis-Cup-Viertelfinale gegen die Tschechische Republik in vier Wochen gesichert.
Obwohl bereits seit einigen Jahren in Holland (Rosmalen) ein ATP-Rasenturnier stattfindet, hat Gerry Weber durch geschickte PR-Arbeit („Wimbledon fängt in Halle an!“) immer die Einmaligkeit seiner Veranstaltung außerhalb des Tennis-Mekkas erfolgreich propagiert. So ist auch beinahe alles wie in Wimbledon. Eine rotes Telefonhäuschen am Eingang, der Centre Court in Original- Grün, Ballkinder im traditionellen Lila, Linienrichter nobel im Einheitssakko mit Schlips, schwarze Netze und hölzerne Netzpfosten und sogar die aufblasbare Regenplane, die auch gleich am ersten Tag zum Einsatz kam.
Phil Thorn, Sohn des langjährigen Wimbledon-Rasenchefs Jim Thorn, kümmert sich mit Original- Dünger und Rasenschnittmaschine seit August 1992 darum, daß das Gras die optimale Länge, wie in London an der Church Road natürlich, von 4,76 Millimeter hat. „It's a miracle“, lobte der 67jährige Jim Thorn die Arbeit seines Sprößlings, obwohl der Rasen erst 85 Prozent der Wimbledon-Qualität habe. „Aber im nächsten Jahr“, meinte Thorn, „sind es 120 Prozent.“
Alles so wie in Wimbledon? Natürlich nicht. Die zusammen vierfachen deutschen Wimbledonsieger Boris Becker und Michael Stich meiden die Hallesche Kopie und bereiten sich lieber am Originalschauplatz auf den Jahreshöhepunkt vor. Gerry Weber gibt sich gelassen und philosophisch zugleich: „Wir in Halle sind nicht so sehr auf Becker und Stich angewiesen; es ist die Idee, die die Menschen fasziniert.“ Immerhin ist der amtierende Wimbledon-Champion André Agassi da, der für seinen Auftritt 400.000 Dollar kassieren soll und als höflicher Amerikaner „die Idee“ sogleich in höchsten Tönen lobte: „Das ist ein unglaubliches Bild.“ Dazu Petr Korda, die Saison-Aufsteiger Andrej Medwedew und Marc-Kevin Goellner sowie Michael Chang, der jedoch bereits in Runde eins gegen den Münchner Bernd Karbacher rausflog., aber dennoch beeindruckt war: „Das Ambiente erinnert an Wimbledon.“ Noch einen Schritt weiter ging der Franzose Henri Leconte, dem sogar die natürlich auch in Halle obligatorischen Erdbeeren „viel besser als in Wimbledon“ mundeten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen