Erinnerungen eines todessüchtigen Flaneurs

■ Auch eine Form innerer Emigration: Der Mailänder Flaneur Delio Tessa verbarg sich in seinen Feuilletons (1935-39) hinter der Maske des Plauderers

Sechs Tage nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schreibt der Mailänder Rechtsanwalt, Lyriker und Feuilletonist Delio Tessa in einem Brief: „Eine kleine Bombe, die auf mein Haus fiele, würde mit einem Schlag Besitz und Besitzer auslöschen. Im Grunde haben wir genug gelebt.“ Zwei Wochen später stirbt er an einem vernachlässigten Zahnabszeß.

Da ist Tessa gerade 53 Jahre alt. Sein literarisches Debut liegt sieben Jahre zurück: 1932 erscheint der erste, zu Lebzeiten einzige Gedichtband mit dem todessüchtigen Titel „L'è di mort alegher!“ zu deutsch: „Freut Euch, heut' ist das Fest der Toten.“ Der Kriegsausbruch verhindert das Erscheinen eines weiteren Bandes.

Seit 1935 schreibt Tessa Feuilletons, Literatur-, Film- und Musikkritiken für Zeitungen und den Rundfunk der italienischsprachigen Schweiz. Von 1936 bis 1939 veröffentlicht die Mailänder Lokalzeitung L'Ambrosiano zahlreiche Feuilletons, die jetzt nach der Wiederentdeckung Tessas in Italien in den 80er Jahren erstmals in deutscher Sprache vorliegen.

Delio Tessa war ein Bürger, der den Faschismus verabscheute, ohne ideologisch gebunden zu sein. Seine Verzweiflung angesichts der Zeitläufte kommt in den zur Veröffentlichung in Mussolinis Italien bestimmten Feuilletons nur sehr indirekt zur Sprache. Er wählt die Maske des harmlosen Plauderers, des literarischen Flaneurs, der Anekdoten aus dem alten Mailand zum Besten gibt. Seine Liebe gilt den Bewohnern der Abbruchviertel, dem Leben in verfallenen Dachstuben, Milchläden, Tabakgeschäften. Er erzählt von den Marotten der Portiers und kleinen Angestellten, vom Protest der Stammgäste eines Cafés, das einer Bankfiliale weichen muß.

So wird er zum Chronisten einer schon untergegangenen, nur mehr in Relikten und Randexistenzen anwesenden Epoche. Weil er der dröhnenden Gegenwart nichts, aber auch gar nichts Positives abgewinnen kann, wendet sich der Blick dieses Flaneurs zurück und nach innen: „Man sieht nur mit geschlossenen Augen gut, die Welt lenkt ab, je schneller du läufst, desto weniger siehst du.“

Die Verhäßlichung seiner Heimatstadt durch Abrisse, Sanierungsmaßnahmen, moderne Neubauten und den Autoverkehr schmerzt ihn so sehr, daß er empfiehlt, Mailand – wie 1162 unter Kaiser Barbarossa geschehen – lieber gleich ganz abzureißen. Wie sein Berliner Pendant Franz Hessel verabscheut er die „schnöde Manie des Kolossalen“, die den modernen Städtebau bestimmt. Aber anders als Hessel Ende der zwanziger Jahre kann er sich nicht mehr zu Zukunftshoffnungen durchringen. Er resigniert vor dem Siegeszug des Faschismus, der auch die geliebte Stadt seiner Kindheit verwüstet hat: „Längst bewohne ich die Stadt, ohne sie anzusehen, wie es uns mit Familienangehörigen geht, von denen wir erst wieder Notiz nehmen, wenn sie sagen: Heute ist mir gar nicht gut.“

So muß der Innenraum seiner Erinnerungsbilder, Gedanken, Geschichten und Anekdoten diesem literarischen Spaziergänger den verstellten Außenraum der Straße ersetzen. Doch in seinen Erinnerungen bewegt er sich ganz wie ein Flaneur: „Ich fange mal an zu erzählen, und dann sehen wir weiter.“ Der Reiz dieser Prosa liegt nicht in der pointenhaften Zuspitzung und Strenge der kleinen Form. Wie beim richtigen Spazierengehen weiß man nie, wohin es Tessa treibt, ob er verweilt, sich in einem Eindruck, einer Erinnerung verliert, ob er einen richtigen Schluß findet oder einfach abbricht, wenn ein Erzählfaden abgespult ist.

Das wirkt auf den heutigen Leser – vor allem, wenn er kein Mailänder ist – manchmal etwas ermüdend, aber nie geschwätzig oder allzu sentimental. Tessa verklärt die Welt um 1900, an der sein Herz hängt, nur wenig. Er sucht Trost in der Erinnerung, nicht weil die Vergangenheit ideal gewesen wäre, sondern aus Verzweiflung an der Gegenwart und dem Mangel an Hoffnung.

„Vor 1914 wuschen sich die Leute weniger, dafür liebten sie die Poesie“, schreibt er. Aber er ist sich bewußt, daß der Erste Weltkrieg, der seine Generation traumatisierte, kein von außen hereinbrechendes Unglück war. Zwischen sehnsüchtigen Familienerinnerungen stehen die Sätze: „Ich würde sagen, wir sind vor lauter bon mots, wonniger Muße, choux à la crème, entzückenden Schweizerhäuschen und Chopin- Etüden in den gräßlichsten aller Kriege geschliddert. Sollte es da nicht möglich sein, daß jetzt aus Haß und Elend der dauerhafteste Frieden erwächst?“

Das schrieb Delio Tessa 1937. Zwei Jahre später war auch die allerletzte Hoffnung auf Frieden zerstoben. Der verzweifelte Flaneur hauchte sein Leben auf denkbar unspektakuläre Weise aus. Michael Bienert

Delio Tessa: „Drei Katzen, ein Mann und andere ambrosianische Geschichten“. Aus dem Italienischen übersetzt von Lieselotte Kittenberger. Verlag Das Arsenal, Berlin 1992. 296 Seiten, 38 DM