Wo Engel klauen gehen

Peter Zadek, ein Regisseur, der sich Naivität leisten kann, gibt am Berliner Ensemble, unterstützt durch seine Stammtruppe aus Hamburg, den Einstand mit der schlichten Parabel „Das Wunder von Mailand“  ■ Von Sabine Seifert

„Kommt das Wunder von Berlin?“, fragte eine Berliner Zeitung vor kurzem. Nun hat Berlin viele Gründe, auf Wunder zu hoffen: Wirtschaftswunder, Menschenwunder, Zeitungswunder und Theaterwunder. Der erwartete Wunderheiler der blessierten Theaterhauptstadt heißt Peter Zadek. Am Berliner Ensemble sollte er die nordöstliche Metropole verwandeln – mit einer Bearbeitung der literarischen und filmischen Vorlage „Das Wunder von Mailand“.

Nun funktioniert das mit der Übertragung der Wundergaben nicht so einfach; das Wunder von Mailand ist kein Wunder von Berlin und auch kein Theaterwunder. Aber ein netter, kleiner und auch ganz wunderbarer Theaterabend – wenn man es will. Einer, der angenehm unprätentiös daherkommt.

Von Peter Zadek stammt der Spruch, er möge zwar Brechts Stücke nicht, sei aber in den 50er Jahren von seiner Art, Theater zu machen, äußerst beeindruckt gewesen: „Es war für mich neu, daß man auch mit Intelligenz Theater machen kann.“ Mit seiner ersten Arbeit am Berliner Ensemble, wo er nach dem Weggang von Matthias Langhoff zum nur (!) noch vierköpfigen Direktorium gehört, knüpft Zadek an die politische Tradition des Hauses an. Er erzählt eine schlichte, phantastische, humorvolle Geschichte mit schlichten Theatermitteln und einer schlichten politischen Wahrheit; eine gewisse Altersmilde kann man dem Unternehmen nicht abstreiten. Oder anders gesagt: Da ist jemand, der sich Naivität leisten kann.

Tot ist ein guter Mensch, wie schon der Titel des Romans „Tot il Buono“ (Tot, der Gute) von Cesare Zavattini besagt. Zavattini schrieb auch das Drehbuch für den 1950 entstandenen Film von Vittorio de Sica. Der Regisseur versuchte mit diesem Film, der nun „Das Wunder von Mailand“ hieß, die Fesseln des Neorealismus abzuschütteln. Er mischte das Realemit dem Phantastischen und erzählte eine moderne Märchenversion, angesiedelt in der Zeit nach dem Krieg und nach dem Tod Mussolinis.

Tot, in der Berliner Theaterfassung gespielt von Uwe Bohm, bewirkt sogar Wunder ohne Wundermittel, er stiftet Gutes, stiftet Ordnung. In der Gemeinschaft der Obdachenlosen am Rande der Stadt führt er vor, wie man aus losen Brettern und Pappen einfache Hütten zimmert und Straßen und Plätzen Namen gibt. Er nennt sie beispielsweise „1 x 1 = 1-Platz“ oder „5 X 5 = 25-Straße“, damit die Kinder rechnen lernen, obwohl selbst ihre Eltern dessen nicht fähig sind.

Eva Mattes führt als Erzählerin durch die Geschichte, die uns zunächst liebevoll mit einer Ansammlung skurriler Gestalten vertraut macht. Arturo (Jaecki Schwarz) zum Beispiel ist ein sympathischer Stotterer, der sich in eine Statue der Niob verliebt (die dann später männersüchtig zum Leben erwacht und ihm männertrunken davonläuft). Rappi (Hermann Lause) dagegen ist ein richtiges Ekelpaket, das mit Steinen nach den Hähnen wirft und die Alten und Kinder wegschubst, wenn es darum geht, im frostigen und trostlosen Halbdunkel der Barackensiedlung einen Sonnenstrahl zu erheischen. Eine besonders clevere Dame ist wiederum Eva (Eva Mattes), die gar mit einem Dienstmädchen in der Elendssiedlung Einzug hält. Dreist ergattert sie die beste Hütte, einen Platz an der Sonne, wo sie von den anderen Bewohnern 1 Lire Eintritt verlangt, um den Sonnenuntergang zu bewundern.

De Sica hat seinen Film mit Obdachlosen vor Ort gedreht; dieses Experiment hat ja auch die Volksbühne gerade hinter sich. Zadek dagegen arbeitet zur Hälfte mit Schauspielern des Ensembles, ansonsten hat er seine eigene, erfahrene Wandertruppe auf eine mit phantasievollem Gerümpel bestückte Bühne (Johannes Grützke) mitgebracht: Uwe Bohm, Eva Mattes, Hermann Lause, Mauro Chechi (als bänkelsingender Italiener) spielen teilweise seit vielen Jahren in Zadeks Inszenierungen. Auch eine italienische Dramaturgin wurde hinzugezogen; das Stück baut auf Improvisation und Formen des Stegreif- Theaters, das aber am Premierenabend noch etwas steif und schleppend wirkte.

Gelungen schien die Improvisation in der Szene, die den Unternehmer Mobbi (Veit Schubert) am pausenlos klingelnden Telefon vorführt. Mobbi hebt ab und sagt „kaufen“, bevor er überhaupt seinen Namen nennt; bei Henningsdorf heißt es dann allerdings „verkaufen“, und bei Hertha „investieren und wenn möglich kaufen“. Mobbi gehört der Grund und Boden der Armensiedlung am Stadtrand, wo durch Zufall Petroleum gefunden wird.

Nun soll die Siedlung dem Erdboden gleich gemacht, die Bevölkerung vertrieben werden. Aber Tots Mutter schickt eine Wundertaube vom Himmel, der Angriff der Polizisten kann abgewehrt werden, denn dem Mund des Kommandierenden entströmen plötzlich nur noch Opernarien. Der Jubel ist groß, und nun muß Tot tausend Wünsche erfüllen. Eine wahllose und absurde Wohlstandsanhäufung setzt ein, die ihre Bewohner letztlich nur verwirrt. Als dann wieder mal die Polizei anrollt, sind sie diesem Angriff hilflos ausgeliefert. Noch einmal mischt sich Tots Mamma als dea ex machina ein. Zwei Engel klauen am Ende die Taube wieder, gerade als Tot dabei ist, seiner Angebeteten neue rote Schuhe zu zaubern. Nun hat sie nur einen.

Im protestantischen Berlin fallen die Wunder derzeit nicht vom Himmel. Aber die Heilsbotschaft vom Bert-Brecht-Platz ist klar: soziale, politische Stoffe sind angesagt, ihre Realisierung mit einfachen Mitteln möglich. Wenn das die neue Linie am Berliner Ensemble ist, dann sollte es mich allerdings wundern.

Cesare Zavattini: „Das Wunder von Mailand“. Bearbeitet von Peter Zadek, inspiriert durch den Film von Vittorio de Sica. Regie: Peter Zadek. Bühne: Johannes Grützke. Mit Eva Mattes, Mauro Chechi, Uwe Bohm, Hermann Lause, Hermann Beyer, Jaecki Schwarz, Urs Hefti, Deborah Kaufmann u. v.a., Berliner Ensemble.

Nächste Aufführungen: 17.- 23.6.