Tanker auf Zehenspitzen

■ Im Bremer Fernsehen wird zur Zeit Hans Kresniks „Wendewut“ aufgezeichnet / Tanztheater im Kameragriff

Wie hält man Ballett fest? Also nicht an Armen und Beinen, sondern für uns und die Ewigkeit? Klar: mit dem Fernsehen. Da können die Bilder ja auch laufen. Aber tanzen?

Durchaus. Wenn sich die Kamera wie eine Stecknadel im Heuhaufen drehen kann. Aber was heißt hier Kamera — Kameras! Fünf sind zur Zeit im Studio II von Radio Bremen aufgebaut, um Hans Kresniks letzte Bremer Tanztheater-Inszenierung aufzuzeichnen: „Wendewut“, das Stück zum Mauerfall, frei nach Günter Gaus' Essay-Vorlage.

Und da in „Wendewut“ an allen Ecken und Enden gleichzeitig der Bär los ist, gibt es eine Kamera mit Pumpfuß für die Totale, zwei für die Diagonale, eine stürzt von oben, und dann noch eine, vermutlich fürs Nahe: also für Augenaufschläge oder den punktgenauen Biß des Stasi- Spitzels in den Nacken des Opfers.

Klaus Bertram, Regisseur und von einer geradezu begeisterten Ruhe, steuert das Team wie mit links. Als wär' das Ganze kein Unternehmen mit Tankerausmaßen: 20 TänzerInnen und mindestens doppelt so viele FernseharbeiterInnen sollen wie Murmeln bei Seegang in fünf schwarze Kamera-Löcher, aber trotzdem nicht ins Leere laufen. Eine ziemlich hoch hergehende Kunst, wenn man auch noch zig sensible Künstlerseelen und einen Kresnik im Nacken hat: dem im Regieraum hinter den sieben Monitoren und nach zweieinhalb Stunden Beleuchtungsprobe plötzlich auffällt, daß alles ziemlich duster aussieht.

Das ist deswegen, erklärt liebenswürdig der Herr Bertram, daß man die Lichtstraßen erkennen könne, die man doch gemeinsam gewollt habe noch vor circa einer Stunde. Und gibt auch zu bedenken, daß es sich hier um Fernsehen und nicht um Theater handele. Und wenn doch, dann eher in adaptierter Form. Und vielleicht könne ja ausnahmsweise die Tänzerin, die zwar im Dunkeln, aber doch sichtbar straucheln soll, ein wenig am Lichtstrahl entlangstraucheln. Aber, jault Kresnik auf, die Choreographie geht anders! Kann ich nochmal schnell Pipi, ruft's aus dem Studio von Kameramann Nummer zwei. Kann er.

Kresnik kann solange nochmal schnell runterrennen ins düstere Hallenstudio, wo original Wendewut-Szenerie herrscht, also hohe Mauern und sonst gar nichts. Überall hinter der simulierten Bühne ist sofort Dunkel. Menschen stehen wie Figuren zwischen fetten Kabelstrippen und wissen erstaunlicherweise, was sie zu tun haben. Scheinwerfer werfen mit Licht und können auf Sonne machen; hier ist aber optische Kälte gefragt, also scheint dank Blaufilter Blaulicht.

Am wichtigsten sind selbstverständlich die Kameras: stehen wie martialische Fingerzeige in der Gegend herum, als hätten sie eventuell ein Geheimnis. Haben sie aber nicht: im Fernsehen ist Dunkel bloß ein leerer Bildschirm. Wenn dann aber was los ist, geschieht gleich derartig viel, daß es sich gegenseitig fast aufhebt und ein Ergebnis wie durch ein Wunder geschieht. Und immer wieder passiert geballtes Nichts, daß man sich als Beobachterin zwischendurch aus Versehen ganz vegißt.

Nach etwa zweieinhalb Stunden schallt ein Wort wie eine Erlösung durch das Studio: MAZ ab! Wir zeichnen auf, Ruhe undsoweiter. Selbstverständlich braucht es mehrere Anläufe. Denn auf einmal starren alle auf die Akkuratesse der Tänzer, die bis dahin wie Füllsel in den Ecken saßen und bloß schrittweise tanzen durften. Und da hat doch glatt eine die mitzunehmende Nelke vergessen! Das hat Kresnik gar nicht gesehen, aber sonst fast alle. Das göttliche Kamera- Auge ist eben unbestechlicher als das kleine Menschenauge, auch wenn Kresnik den Überblick nur ungern abgibt.

Im Endeffekt und zuhause hilft aber das Fernsehen doch auf die Sprünge, vor allem uns Zuschauern; die sich im Theater das Verständnis ja hart erarbeiten müssen: im Fernsehsessel können wir dann gemütlich die bebenden Nasenflügel der Solistin sehen und wissen gleich anhand der äußeren um die innere Bewegung. Klaus Bertram versteht das als Angebot: uns nicht die ganze Arbeit abnehmen, aber eine mögliche Antwort geben auf die Frage, was eigentlich wichtig ist.

Und auch wenn jeder Take seit Wochen besprochen und festgelegt ist, so ist doch immer noch aus einem Chaos eine Welt zu erschaffen. Klaus Bertram braucht dazu zehn Tage. Claudia Kohlhase

Zu sehen am 15.9. auf arte, 20.40h, im Rahmen eines Kresnik-Abends