Schlafliedfür das Ausland

■ Offener Brief an Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel, Bonn

Offener Brief an Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel, Bonn

[...] Nach der Anmoderation des ZDF-Reporters am 30.5. in der Sendung „heute journal spezial“, welche lautete: „Im Bonner Außenministerium heute ebenfalls Entsetzen über die Gewalttat, ist doch abzusehen, daß erneut das Bild Deutschlands im Ausland in eine Schieflage geraten könnte“, erschienen Sie auf dem Bildschirm und sagten: „Ja, dies wird uns sicher ansehensmäßig im Ausland und im Inland schaden. Das war ja schon nach den letzten Ausschreitungen dieser Art und nach den Vorkommnissen der Fall. Es war Gott sei Dank etwas eingeschlafen im Echo nach draußen, durch die Lichterketten, durch die Demonstrationen, die dem Ausland gezeigt haben: Wir sind nicht ausländerfeindlich. Durch einen Aufstand des Anstands, wie ich mich ausgedrückt habe. Das wird jetzt wieder aufleben, es wird wieder notwendig sein, nach draußen zu erklären, klarzustellen und mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß die weit überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes, der Bürgerinnen und Bürger, so etwas zutiefst ablehnt und sich dafür schämt.“

Das ist notwendig, da werden Sie wohl recht haben: Unsere deutsche Not, daß da ein klimagestörtes Gefühl im Ausland wieder erwacht ist, muß gewendet werden. Es sollte unser aller Ziel sein, allzu hartnäckiges und zeitraubendes Nach-, Ge- und Zurückdenken an bzw. über dieses Vorkommnis schnellstmöglich wieder zum Schlafen zu bringen, wie es uns nach den Morden von Mölln ja bereits einmal gelungen ist.

Genau hier aber meldet sich nun meine Verunsicherung zu Wort: Zwar ist es uns von den Vorkommnissen in Hoyerswerda über Rostock bis hin zu denen in Mölln – alle hier nicht genannten Zwischenstationen eingeschlossen – jedesmal gelungen, der Steigerung der Gewalttätigkeit dieser manchmal so verblüffend zahlreichen Einzeltäter immer noch ein schöneres, eindringlicheres, rührenderes und harmonischeres Schlaflied für das Ausland entgegenzusetzen. Wird uns das aber auch in diesem neuen Fall gelingen? Die Steigerung der Gewalt hat sich ja – rein rechnerisch; unterm Strich gewissermaßen – erneut eingestellt: Diesmal haben wir fünf Tote anstelle der nur drei in Mölln. Ich möchte Sie also bitten, ihre oben zitierte Aussage für mich und meine Verunsicherung noch etwas zu präzisieren, mit konkreten Vorschlägen zum Fall Solingen und vielleicht sogar mit allgemeinen Richtlinien für unsere Demonstrationen gegen die nächsten Mordfälle (bald mit zehn, dann 13, wann 27 Toten?)

War z.B. die Zeiteinheit, die wir Demonstranten der uns von den Terroristen in Mölln vorgebrandschatzten Zeiteinheit entgegengesetzt haben, eine für Ihre und unsere Zwecke einigermaßen taugliche? War es einschläfernd genug, daß wir die Lichterketten ungefähr drei Wochen leuchten ließen, gegenüber der Tatsache, daß die drei Möllner Türkinnen nie wieder leben werden? Sollen wir Demonstranten in gleicher Rechnung jetzt zirka fünf Wochen, beim nächsten Mal dann zehn oder 13 Wochen auf die Straße gehen (allgemeine Richtlinie: Für jede(n) Tote(n) eine Woche?). Sollen wir uns unsere Ruhe, die die Angehörigen nie wieder haben werden, diesmal etwas später gönnen? Müssen wir bei unserer Lichterkettenneuauflage der Neuerung Rechnung tragen, daß wir diesmal zu den fünf Toten noch verletzte Kinder mit verbrannter Gesichtshaut, verbrannten Händen hinzubekommen haben, und wenn ja, wie? Wie schützen wir den Schlaf des Auslands am schnellsten und wirkungsvollsten vor den Schreien dieser Kinder? Wird es ausreichen, wenn wir z.B. die Lichterketten noch ein bißchen verlängern, um ungefähr 100 Meter für jeden verbrannten Quadratzentimeter Haut?

Ist bei der Gestaltung neuer Beschämung überhaupt besonders zu berücksichtigen, daß – wieder – Kinder unter den Opfern sind? Ist das in den Augen des Auslands besonders schwerwiegend und schlafraubend und wäre es vielleicht angebracht, diese Peinlichkeit diesmal durch besonders helle Lichter (ggf. sogenannte „Bengalische Feuer“) vergessen zu machen? Und welche pyrotechnischen Steigerungsmöglichkeiten haben wir, wenn das Feuer beim nächsten Mal noch mehr Kinder frißt?

Sollten wir zum Ausgleich der Tatsache, daß da gut integrierte Türken, die seit Jahren hier leben, freundlich sind, Steuern zahlen etc., zu Tode gekommen sind, versuchen, zwei Städte durch eine gigantische Lichterkette miteinander zu verbinden, z.B. Hamburg und Bremen, und dem Ausland davon eine überwältigende Luftaufnahme in die Nachrichtenagenturen überspielen? Bekämen wir auf diese Weise unsere Ruhe schneller wieder zurück, als wenn jede Stadt sich auf ihre eigene Lichterkette beschränkt? Und wenn beim nächsten Anschlag z.B. weniger freundliche, der deutschen Sprache kaum mächtige und nicht Steuern zahlende Rumänen, Bulgaren oder Sinti den Tod finden – reicht dann eine Lichterkette rund um die Heidelberger Heiliggeistkirche für den Schlaf der Gerechen aus?

Oder ist es wirkungsvoller, die Demonstrationen und Lichterketten in jedem neuen Fall in Grenznähe zu plazieren, immer nach dem Land hin ausgerichtet, aus dem die Opfer kommen? Welche genaue Demonstrationsform, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, macht dieses Pogrom so schnell wie möglich wieder vergessen?

Ich hoffe, Sie können mir in Bezug auf diese Fragen Orientierungshilfe geben, damit ich so schnell und gut wie möglich meine Not wendende Lichterkette beginnen kann.

Sollte Sie dieser Fragenkatalog aber ein wenig befremden, sollten Sie sich mißverstanden fühlen, sollten Sie etwas anderes gemeint haben, als Sie dem ZDF-Reporter gesagt haben, so möchte ich Sie zur Sicherheit noch auf die Möglichkeit der Entschuldigung für ihre Denk- und Ausdrucksweise aufmerksam machen. Sie könnten sich für die oben zitierten Sätze entschuldigen.

Bei den Toten, all den Toten. Dafür, daß Ihnen angesichts so radikaler Zukunftslosigkeit so schnell wieder Zukunft eingefallen ist. Bei den Angehörigen der Toten. Dafür, daß Sie an deren Trauer vorbei so schnell Ausblick gehalten haben nach Beruhigung und Normalisierung, daß Sie Ihre, nicht deren Not wenden wollten.

Bei Ihren Wählern. Dafür, daß Sie nicht sofort Ihre Entrüstung über die Gedankenlosigkeit und Unangemessenheit dieser Reporterfrage zum Ausdruck gebracht haben. Und bei all den Demonstranten. Dafür, daß Sie die Demonstrationen so überhaupt nicht verstanden haben; daß Sie zumindest bis zum 30. Mai 1993 nicht begriffen haben, daß die Demonstrationen und Lichterketten Ausdruck von Trauer, Scham und vor allem Hilflosigkeit waren – Hilflosigkeit gegenüber dem Ausundvorbei des Todes, den die rechtsgerichteten Terroristen ihren Opfern angetan haben, nicht gegenüber dem vergleichsweise leicht wiederherstellbaren Ansehen Deutschlands. Friedemann Rothfuchs,

Heidelberg