Wertepädagogik im Bundestag

Kaum hatte der Kanzler die Floskeln von „Trauer“ und „Entsetzen“ über die Solinger Morde hinter sich gebracht, folgten schon die „unbestreitbaren Belege für die Ausländerfreundlichkeit“ der Deutschen.

Wenn Johannes Rau, der die versöhnliche, die Geste der Gemeinsamkeit so sehr schätzt, ganz am Anfang seiner Rede den Kanzler rügt, dann gewiß nicht ohne Grund. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, der gestern direkt nach der Regierungserklärung Helmut Kohls zum hohen Haus sprach, konnte sich am Ende seiner (gelegentlich launigen) Rede über den anhaltenden Beifall der großen Fraktion auf dem linken Flügel des Plenarsaales freuen.

Stille dagegen auf der Regierungsseite. Die große Fraktion auf dem rechten Flügel hingegen hatte laut geklatscht, als Helmut Kohl seinen Platz auf der Regierungsbank wieder eingenommen hatte. Bei der Opposition hatte sich kaum eine Hand gerührt. Der Bundestag demonstrierte gestern, daß der Appell von CDU-Generalsekretär Peter Hintze („Hier sind alle zu einer großen, gemeinsamen Kraftanstrengung gefordert“) leider nichts anderes ist als eine leere Politiker-Floskel.

Nur einmal, am Schluß der Rede, war Helmut Kohl gestern so etwas wie innere Bewegung anzumerken. Die deutsche Einheit, so der Kanzler, sei mit Zustimmung aller Nachbarn nur möglich gewesen, weil uns die Nachbarn und die Welt vertrauten. Ansonsten trug der Bundeskanzler seine fast einstündige Regierungserklärung „zur aktuellen Lage der deutsch- türkischen Beziehungen, Bekämpfung von Gewalt und Extremismus sowie zu Maßnahmen für eine verbesserte Integration der Ausländer in Deutschland“ außerordentlich gleichmütig vor. Das Naturell von Kohl ist allzu bekannt, es soll ihm nicht vorgehalten werden. Und doch: Wenn zur Haltung soviel unterkühlte Worte kommen, dann entsteht eben der Eindruck, daß hier jemand so gar nicht Anteil nehmen wil. Ordentlich, wie es solche Gelegenheiten vorsehen, begann der Kanzler mit Trauer und Entsetzen und dem Bekenntnis des Mitgefühls für die Hinterbliebenen der Opfer. „Es ist jedoch unsere Pflicht, den Ursachen solcher Gewalt mit großer Ehrlichkeit nachzugehen.“ Kohl formuliert einen großen Anspruch — um ihn dann selbst ununterbrochen zu dementieren. Das erste eigentliche Kapitel seiner Regierungserklärung galt den deutsch-türkischen Beziehungen, es folgte die Strafverfolgung, dann die Sorge über die Gewalttätigkeit „zwischen rivalisierenden Extremisten aus der Türkei“. Erst dann kam der Bundeskanzler auf „die hier lebenden Ausländer“, stellte im Anschluß mit vielen Zahlen die unbestreitbaren Belege für Ausländerfreundlichkeit und Weltoffenheit der Bundesrepublik vor. Danach Bemerkungen über Schule, Erziehung, Wertegefüge, Gewalt und Medien. Die Schlußbemerkung widmete der Kanzler dem Patriotismus.

„Wer Haß gegen Ausländer schürt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, ein guter deutscher Patriot zu sein.“ Auch wem vor jedem nationalen Anflug graust, wird diesen Satz kaum bestreiten wollen, und Richard von Weizsäcker würde man ihn abnehmen. An Ende dieser Kanzlerrede klang er nur dröhnend, denn statt der „großen Ehrlichkeit bei der Ursachenforschung hatte der Kanzler vor allem Gewißheiten zu liefern. Es muß tatsächlich über Polizei und Strafverfolgung geredet werden.

Was die Konservativen schon immer kritisieren

Aber Helmut Kohl sattelte einfach alles drauf, was die Union in dieser Hinsicht schon immer wollte. Keinen erhobenen Zeigefinger gegenüber der Türkei, verlangt der Kanzler im ersten Teil. Doch dann klingen die unbestreitbaren Zahlen über die aufgenommenen Flüchtlinge, die Ausländerzahlen nur wie Eigenlob: „Diese Zahl ist in Europa völlig unübertroffen.“ Werte, Erziehung, Schule? Der Kanzler hat alles parat, was die Konservativen schon immer zu kritisieren hatten: Konfliktpädagogik, das Wort von den Sekundärtugenden, von der Gewalt gegen Sachen. Aber schon die Frage nach den eigenen Anteilen an der Entwicklung fehlt, obwohl die Ehrlichkeit sie doch als allererste verlangt.

Enttäuschend unverbindlich und unterhalb dessen bleiben die Angebote an die ausländischen „Mitbürger“. Kohl wiederholte nicht einmal seinen eigenen Vorschlag, die doppelte Staatsbürgerschaft befristet einzuführen. Der Bundeskanzler, der in Regierungserklärungen, die aus solchen Anlässen gehalten werden, für alle zu sprechen hat, sprach an die Adresse der Weltöffentlichkeit und an die der eigenen Partei. „Offene gesellschaft und freiheitliche Demokratie ruhen auf Fundamenten, die der Staat nur in begrenztem Maße garantieren kann. Politisches Handeln kann den ethischen Grundkonsens in einem Volk niemals ersetzen. Zu diesem Grundkonsens gehören auch Tugenden wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Höflichkeit.“ Da hat Helmut Kohl recht. Aber schlechte Beispiele sollten Politiker nicht liefern. Tissy Bruns, Bonn