Village Voice
: Späte Rache (West)

■ Auf nationaler Ebene bereits von lauter Rösners, Kühnens und Streidels umgeben: „Du bist nicht mein Bruder“ von Mutter

Zwei frühgreise Biker am U-Bahnhof Hallesches Tor haben ihre helle Freude am Akkordeonspiel, das aus der Unterführung nach oben dringt: „Endlich ma' wat Deutschet!“ prostet der eine dem anderen zu, und während sie versuchen, das schon vergessen geglaubte Lied vom kolonialisierten Berliner Kleingärtner mitzusummen, sind sie für ein paar Momente eins und glücklich mit der Welt. Sie könnten selbst Mutter ertragen.

Auf ihrer dritten LP haben Sänger/Songschreiber Max Müller und seine drei Musikanten sich der gesamtdeutsch wandelnden Sitten angenommen und festgehalten, wie es im mauerlosen Kopf zugeht. Im ersten Durchlauf macht es Krach unter der Oberfläche und keinen Spaß. Die Texte handeln von Michael Kühnen, dem mannstollen Homo- Nazi und seinem festen Glauben bis in den Tod, oder vom „Ost Schwein“ und der „West---“, die es sich gegenseitig ohne jede Würde besorgen. Attentäter von morgen („Ich bin Er“) treffen auf noch nicht ganz sexuell ausgereifte Mädchen („Ihr größter Wunsch“), und beim Finale hebt ein Chor an, der in fröhlicher Sylvesterstimmung aus einem St.Petersburger Hotel seinen Kommentar zur Wiedervereinigung abläßt: „Du bist nicht mein Bruder, Du bist nicht meine Schwester“. Es klingt wie der Soundtrack zur späten Rache des Kleinbürgers West, die sich so sonst nur Christoph Schlingensief in seinen Kinoträumen ausmalt. Der Mutter-Fanclub heißt ex negativo vereinsmeiernd „die eigene Gesellschaft“.

Beim zweiten Hören ist es unendlich anders. Dann setzt „Du bist nicht mein Bruder“ genau an dem Punkt an, wo die Stones mit „Let it Bleed“ und Ton Steine Scherben oder die Sex Pistols im allgemeinen mit dem Bohren aufgehört haben, denn keine der Bands ist mit ihren Hymnen jemals über eine metaphorische Annäherung ans revolutionäre Leben hinausgelangt. Wenn Jagger im Refrain zu „Gimme Shelter“ die Jugend beschwörend vor dem imaginären Krieg warnt, der nur eine Kußlänge entfernt auflodert, dann wähnt sich Mutter auf nationaler Ebene bereits von lauter Rösners, Kühnens und Streidels umgeben. Insofern gleicht die Kampfansage eher einer Selbstverteidigung gegen jeden und alles, der die defensiv ausgerichtete Musik zu entsprechen scheint. Ohne melodische Ablenkungen kreist der Bass von Kerl Fieser sehr verhalten und abstrakt über dem Gesang, und bricht nur manchmal mit einem überrissenen Feedback oder einer tiefgelegten Verzerrung durch, wenn es darum geht, die Aussage zu bestärken und Ausrufezeichen statt Kontrapunkte zu setzen, während Gitarre und Schlagzeug den Glenn-Branca- mäßigen Lautstärkefluß am Laufen halten.

Fast hat man das Gefühl, daß sich unter dem schwelenden Geräuschpegel eine Bluesband verborgen hält, die zumindest im Honkytonkpiano-beliehenen Akustik-Song „Alles was du schon immer hören wolltest“ ganz zum Vorschein gelangt. Ansonsten kracht's.

Der Blues in seiner Ambivalenz zwischen strenger Form und unkontrolliert sich entladenden Gefühlsausbrüchen paßt auch zu der Art, mit der Max Müller seine Geschichten halb heiter, halb unter Schmerzen erzählt. Von allen dichterischen Zeichen verlassen, findet Max Müller auf „Du bist nicht mein Bruder“ an jeder Höflichkeitsfloskel und falschen Pop- Konvention vorbei, indem er banale Vorgänge beschreibt: Subjekt, Prädikat, Objekt und jede Menge Verneinungen. Bei „Lachen ist billig“ brüllt er im Refrain die Band in Grund und Boden, während ihm in „Humor“ gleich zu Beginn die Stimme beinahe wegbleibt und danach wie im Kanon des Waldes zu „Tanz der Teufel“ um eine halbe Oktave nach oben rutscht.

Auch darin liegt eine Anklage: Trauer, Betroffenheit oder Wut – ob in Punk oder Rock'n'Roll – sind immer nur Bilder und Gesten geblieben. „Macht kaputt was euch kaputt macht!“ ist ein Akt der Sprache, dem Max Müller ebensowenig über den Weg traut wie jenem ur-romantisch deutschen Symbolismus, der beispielsweise einen Blixa Bargeld auf dem „Tabula Rasa“-Album behaupten läßt: „Ich schien aus Antimaterie zu sein – gefährlich“ („Was bleibt?“).

Dagegen liest sich der Text von Mutters „Ich weiß“ wie eine illusionslose Antwort: „Ich weiß ich weiß, Selbstaufgabe vor dem eigenen Ich“. Harald Fricke

Mutter: „Du bist nicht mein Bruder“. WSFA, CD