Der Frieden kommt, die Armut bleibt

In Äthiopiens Nordprovinz Tigray herrscht kein Krieg mehr / Nun müssen Ex-Guerilleros, Flüchtlinge und umgesiedelte Bauern auf dem knappen Land reintegriert werden – ohne Geld  ■ Aus Mekelle Jean-Pierre Kapp

Es regnet. Es regnet jeden Tag, obwohl die große Regenzeit eigentlich erst im Juli beginnt. Das hat es in Tigray seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben. Die Erde ist feucht, die Äcker werden gepflügt – und doch sät niemand. Denn die Bauern haben nicht genügend Saatgut, um notfalls ein zweites Mal anzupflanzen.

In der Heimat der „Tigre- Volksbefreiungsfront“ (TPLF) und der daraus hervorgegangenen „Revolutionären Demokratischen Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF), die vor zwei Jahren Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba eroberte, herrscht nach 17 Jahren Bürgerkrieg Frieden. Aber damit ist die Armut nicht verschwunden. Die nördlichste Provinz Äthiopiens, die in der Vergangenheit vor allem durch wiederholte Hungersnöte von sich reden machte, hat aus der Machtübernahme ihres ehemaligen Guerillaführers Meles Zenawi in Äthiopien keine Vorteile gezogen.

„Wir sind alle Äthiopier“, erklärt Mamit Gabriel Zabie, ehemalige TPLF-Kommandantin, die nun in der Provinzhauptstadt Mekelle für die Verteilung der ausländischen Hilfe zuständig ist. Keine Region solle bevorzugt behandelt werden.

In der Tat gibt es in Tigray bisher noch keine einzige Fabrik. Entgegen der in der äthiopischen Hauptstadt vor allem in Kreisen der ehemaligen Herrschaftsschicht der Amharen kursierenden Gerüchte sind weder ganze Industriebetriebe noch große Mengen an Konsumgütern in den Norden transportiert worden.

Es fehle an allem, erklärt Mamit Gabriel. Fast alle Kliniken und Schulen seien in den siebzehn Jahren Bürgerkrieg zwischen der TPLF und dem äthiopischen Mengistu-Regime zerstört worden. In den neu eingerichteten Krankenstationen fehlten die grundlegendsten Ausrüstungsgegenstände und Medikamente. Ein Drittel aller Schulen seien „green schools“ – Schulen unter freiem Himmel, in denen Steine als Stühle dienen.

Tigray hat im Krieg furchbar gelitten – nicht nur materiell. Etwa 400.000 Menschen starben während der Hungersnöte von 1984/85 und 1987/88 in Wollo, Tigray und Eritrea. Weitere 100.000 Tigriner sollen bei den gewaltsamen Umsiedlungsaktionen der Mengistu- Regierung im Jahre 1985 ums Leben gekommen sein. Der Befreiungskrieg der TPLF forderte nach Schätzungen von Beobachtern etwa 50.000 Tote unter der Guerilla und Zehntausende von Opfern unter der Zivilbevölkerung.

„Nun sind wir frei“

Der Krieg ist nun vorüber, die Tigriner haben gewonnen. Die Stimmung in Städten wie Mekelle, Adigrat und Axum wirkt entspannt. Aber Triumphgefühl ist nicht zu spüren. „Nun sind wir frei“, erklärt schlicht ein Tigriner in Mekelle, der einst für das Rote Kreuz arbeitete. „Wir können sagen, was wir wollen und uns bewegen, wie wir wollen.“ Den Namen des Provinzgouverneurs von Tigray, Gabro Asrai, nennt er jedoch nach wie vor nur hinter vorgehaltener Hand. Das Mißtrauen gegen die Mächtigen – auch aus den eigenen Reihen – ist geblieben.

Auch ohne Krieg ist der Überlebenskampf in Tigray hart. Nach Ende der Feindseligkeiten im Juni 1991 strömten Hunderttausende der von Mengistu in die südlichen Provinzen Zwangsumgesiedelten wieder in ihre alte Heimat zurück. Die siegreiche Guerilla im benachbarten Eritrea wies Tausende von Tigrinern aus. Ex-Soldaten und Kriegsversehrte müssen in die Gesellschaft reintegriert werden.

Die Provinzverwaltung verfügt nicht über die finanziellen Mittel, um mit all dem fertig zu werden. Nach Angaben von „Caritas“ erhielt sie 1992 von der Zentralregierung lediglich 60 Millionen Birr (etwa 16 Millionen Mark). Nötig für die Befriedigung der absoluten Minimalausgaben seien zehnmal so viel. An Katastrophen- und Entwicklungshilfe fließen in dem Jahr weniger als 80 Millionen Mark – Weltbankkredite mitgerechnet – in den Norden Äthiopiens, was bei einer Bevölkerung von 4,5 Millionen Menschen weit unter dem afrikanischen Durchschnitt liegt.

90 Prozent der Tigriner sind Subsistenzbauern und erwirtschaften auf ihrem Land gerade das Lebensnotwendigste. Bereits jetzt sind die Böden ausgelaugt und wegen der kaum mehr vorhandenen Bewaldung der Erosion durch Wind und Regen ausgesetzt. Das deutsche Hilfswerk Misereor und die Caritas betreiben in der Region von Adigrat im Norden Tigrays ein Projekt zur Bodenkonservierung und Wiederaufforstung. Es werden 67 sogenannte „checkdams“ – Schutzwälle – errichtet, im Bau befinden sich ebenfalls zwei Flußuferverbauungen und ein Bewässerungskanal. Für ihre Mitarbeit erhalten die wöchentlich ausgewechselten lokalen Bauern 4Birr (DM 1,20) pro Tag.

In drei Baumschulen werden überdies 200.000 Baumsetzlinge gehegt, die später in den Bezirken von Asafe-Seba und Subuha-Sasie gepflanzt werden sollen. Doch wie Abba Hegos, äthiopischer Koordinator der Projekts, erklärt, ist dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Einst waren 40 Prozent der Fläche Tigrays mit Wald bedeckt; heute sind es noch vier.

Food-for-work

Auf die Ambivalenz solcher Bodenkonservierungsprojekte weist der Geograph Karl Herweg von der Universität Bern hin, der seit fünf Jahren in einem Projekt in Addis Abeba zur Verminderung von Erosionsschäden arbeitet. Gerade in Gebieten wie Tigray, wo landwirtschaftlich nutzbarer Boden äußerst knapp ist, stellten präventive Maßnahmen für die Bauern einen Luxus dar. Bei der Terrassierung zum Beispiel gehe wertvolles Land verloren: durch die Errichtung der Terrassen werde die Ackerfläche um zehn bis fünfzehn Prozent reduziert. Zudem siedelten sich in den Terrassenmauern Ratten an, das Unkraut nehme zu. Kurzfristig könne der einzelne Bauer daher bis zu 30 Prozent seiner Ernte einbußen – bei Anbauflächen, die meist kleiner sind als ein Hektar, ist das unzumutbar.

Es kommt hinzu, daß ja auch langfristig kein Gewinn erzielt wird, sondern der Ertrag lediglich stabil bleibt. Die Bauern könnten daher nur durch finanzielle Anreize zum Bau von Terrassen und Flußuferbefestigungen gebracht werden – zumeist Food-for-work- Programme, bei denen sie für ihre Arbeit mit Nahrungsmitteln entschädigt werden.

Die so gebauten Terrassen werden, so Herweg weiter, oft später wieder zerstört. Damit hat der Bauer wieder mehr Anbauland zur Verfügung und kann dazu hoffen, daß sein Land bald erneut für ein Food-for-work-Programm ausgewählt wird. Reelle Chancen hätten daher nur Aufforstungsprojekte auf total erodiertem und für die Bauern kurzfristig uninteressantem Land.

In den vergangenen zwölf Monaten wurden in Tigray rund 200.000 Tonnen aus dem Ausland stammende Nahrungsmittel verteilt, zum großen Teil im Rahmen von Food-for-work-Programmen. Die Lage, so ein Mitarbeiter einer großen US-Hilfsorganisation in Addis Abeba, sei nicht gerade rosig. Es bestehe keinerlei Aussicht, daß Tigrays Bevölkerung sich in naher Zukunft auch nur annähernd selbst versorgen könne. Entweder müßte ein großer Teil der Bewohner auswandern, oder die Industrie und der Dienstleistungssektor müßten ausgebaut werden. Allerdings sei weder das eine noch das andere zu erwarten. Nur wenige junge Leute sind bereit, ihre Scholle zu verlassen. Und es bestehen nur wenig Anreize für Investitionen von außen.

Saudische Moscheen

Interesse an Tigray, wenn auch aus eigenen Gründen, zeigte bisher nur Saudi-Arabien. Der saudische Geldhahn zum Bau neuer Moscheen und Koranschulen in der traditionell gemischt christlich- muslimisch bevölkerten Provinz wurde in letzter Zeit gehörig aufgedreht. Ein Konflikt in Axum, wo angeblich die Gesetzestafeln Moses' aufbewahrt werden, wurde erst in letzter Minute abgewendet: Die muslimische Gemeinschaft erklärte sich nach Vermittlung auf höchster Ebene zum Verzicht auf den Bau einer Moschee in diesem „Vatikan“ des jahrtausendealten äthiopischen Christentums bereit.

Tigrays Städte erleben derzeit einen regelrechten Bauboom. Doch die an den Stadträndern entstehenden Neubauten sind vor allem neue Wohnhäuser für die heimkehrenden Soldaten und Umsiedler. Lediglich in Mekelle ist die Errichtung einer Zement- und einer Nägelfabrik, einer Bierbrauerei und einer Abfüllanlage für Mineralwasser geplant.

So sieht die wirtschaftliche Zukunft düster aus: Weder besteht in Tigray eine industriell nutzbare Infrastruktur, wie dies beispielsweise in Eritrea der Fall ist, noch befindet sich Tigray in einer marktstrategisch interessanten Position, die ausländische Geldgeber anziehen könnte. Seitdem sich der nördliche Nachbar Eritrea von Äthiopien abgespalten hat und Tigray somit Grenzland wurde, befindet sich die Provinz sogar in einer regelrechten Sackgasse.

Krieger zu Handwerkern

Die Loslösung Eritreas ist in Mekelle, anders als in Addis Abeba, dennoch kein Gesprächsthema. Auch scheinen unter den ehemaligen TPLF-KämpferInnen noch keine größeren Frusterscheinungen aufgetreten zu sein, wie dies unter den Angehörigen der „Eritreischen Volksbefreiungsfront“ (EPLF) der Fall war: Nach der Ankündigung, daß ihre Dienstzeit nochmals verlängert werden sollte, besetzten EPLF- Kmpfer kurz vor der offiziellen Unabhängigkeitsfeier kurzerhand Flughafen und Radiostation in Eritreas Hauptstadt Asmara; der Konflikt konnte kurz vor dem Eintreffen der ausländischen Staatsgäste mit einem Einlenken der Regierung beigelegt werden.

Die TPLF-Kämpfer in Äthiopien sind nicht dienstverpflichtet – ihnen steht es frei, weiter in der neuen äthiopischen Armee zu dienen oder nach Hause zu gehen – mit dem Ergebnis, daß die zu Zeiten Mengistus über eine Million Soldaten zählende Armee inzwischen auf eine Stärke von unter 200.000 geschrumpft ist. In den Städten Tigrays wird den Ex-Kämpfern zudem die Möglichkeit geboten, den während des Krieges versäumten Schulbesuch nachzuholen oder eine andere Ausbildung zu absolvieren.

12.000 Ex-Guerilleros wurden inzwischen, so die Provinzverwaltung, mit einem Stück knappen Ackerlandes versorgt. Amputierte TPLF-Kämpfer erhalten in Mekelle vom Internationalen Roten Kreut Beinprothesen und werden anschließend in Adigrat vom TPLF-Hilfswerk „Rest“ handwerklich ausgebildet. Mit bescheidenen Mitteln werden den Versehrten Kurse in Stoffdruck, Metall- und Holzbearbeitung sowie Schneiderei angeboten. Anschließend sollen sich die „neuen Handwerker“ in Kooperativen zusammenschließen und ihre Produkte auf dem freien Markt anbieten.

Darüber, daß die wenigsten dieser Rehabilitierten nicht mehr auf das Land zurückwollen, scheint die Regierung eher froh zu sein, denn freies Ackerland ist kaum vorhanden. Die Bevölkerung scheint der Vorzugsbehandlung für die einstigen Guerillakämpfer bislang eher Verständnis entgegenzubringen. Doch bei der nächsten Mißernte wird sich zeigen, ob die Solidarität hält, wie sie das Sprichwort beschwört: „Wo genügend enjera (Nationalgericht) für fünf Leute da ist, reicht es auch für zehn.“