■ Japan feiert seinen Regierungssturz: Echt demokratisch
Die Tokioter Börsenkurse fielen, der Höhenflug des Yen endete über Nacht, und im Parlament verkündete der sozialdemokratische Oppositionsführer Sadao Yamanohana: „Der Berg hat sich bewegt.“ Zu historischer Stunde präsentierte sich Japan gestern in neuem Gewand. Plötzlich schienen 38 Jahre disziplinierter Einparteienherrschaft wie aus der Welt geschaffen. Sozialdemokraten applaudierten Mitgliedern der Regierungspartei. Kabinettsminister, die erst wenige Minuten zuvor aus der Regierung ausgetreten waren, stimmten mit der Opposition. In der Euphorie des Augenblicks konnte es manchem Parlamentarier erscheinen, als erhalte nun erst die echte Demokratie in Japan Einzug – nachdem es 1945 nur mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsmacht gelang, demokratische Verhältnisse zu schaffen.
Erstmalig in der Nachkriegszeit ist es einer vereinten japanischen Opposition gelungen, eine gespaltene Regierung per Mißtrauensvotum zu stürzen und damit Neuwahlen zu erzwingen. Zwar gab es 1948, 1953 und 1980 bereits drei erfolgreiche Mißtrauensanträge, doch jedesmal fanden Neuwahlen mit dem stillschweigenden Einverständnis der Regierenden statt. Erst heute hat der Machtwechsel eine Chance. Dabei haben die Japaner bereits bewiesen, daß sie neue Mehrheiten schaffen können. Schon 1989, als der damalige Premier aufgrund von Skandalverwicklungen zurücktreten mußte, schickte die Wählerschaft eine oppositionelle Mehrheit ins Oberhaus. Diesmal ist das Krisentiming für die Opposition günstiger, weil im Juli nun entscheidene Unterhauswahlen stattfinden.
Unvermutet bietet sich Japan die Aussicht auf Veränderung. Noch ist die Wirtschaftslage trotz Wachstumsrückgang stabil, sind die sozialen und politischen Ängste des Westens nicht bis Japan durchgedrungen. Die Arbeitslosigkeit steht knapp über zwei Prozent und wird im Wahlkampf kein Thema sein. Nicht einmal die noch letztes Jahr umstrittene Entsendung japanischer Soldaten auf Blauhelm-Missionen der UNO liefert Sprengstoff. So zurückhaltend formuliert auch die Regierungspartei noch ihre Außenpolitik, daß der Pazifismusvorwurf an die Opposition wenig Kontroverse verspricht. Vielleicht ein letztes Mal könnten es sich die Japaner also leisten, mit rein innenpolitischen Motiven abzustimmen. Grund genug dafür gibt es: Erst in diesem Frühjahr enttarnte die Tokioter Staatsanwaltschaft den langjährigen Fürsten der Liberaldemokraten, Shin Kanemaru, als Besitzer verbotener Aktienpakete und Goldbarren. Seitdem hat Japan seinen Deng Xiaoping verloren und einen Nachfolger nicht gefunden. Warum also nun nichts Neues? Georg Blume, Tokio
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