Kurden starten Kamikaze-Aktionen

■ Geiselnahme in München, Anschläge in vielen Städten / Ein Toter bei Schießerei in Bern

Berlin (dpa/AP/AFP/taz) – Hinter der gestrigen Serie von Botschaftsbesetzungen, Geiselnahmen und Anschlägen gegen türkische Einrichtungen in zahlreichen westeuropäischen Städten steht offenbar die Kurdische Arbeiterpartei PKK. In München überfielen mindestens acht kurdische Geiselnehmer das türkische Generalkonsulat und brachten 19 Angestellte sowie sechs Besucher in ihre Gewalt. Die Botschaftsbesetzer im Alter von etwa 20 bis 25 Jahren sind nach Polizeiangaben mit wenigstens einer Maschinenpistole und mehreren Faustfeuerwaffen ausgerüstet und verfügen möglicherweise über Sprengstoff. Mehrere hundert Polizisten sperrten die umliegenden Straßen, Scharfschützen gingen in Stellung. In Verhandlungen mit der Polizei verlangten die Kurden eine Fernseherklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl. Kohl sollte darin die türkische Regierung auffordern, sofort mit dem „Krieg gegen die Kurden“ aufzuhören. Geschehe das nicht, würden Geiseln erschossen. Bei einer Stürmung des Gebäudes durch die Polizei soll „alles in die Luft gesprengt“ werden. Nach eigenen Angaben sind sie nicht der linksextremen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zuzurechnen. Sie seien darauf vorbereitet, das Konsulat über mehrere Tage besetzt zu halten.

Im Bonner Innenministerium wurde sofort ein Krisenstab eingerichtet. Bundesaußenminister Klaus Kinkel appellierte an die Geiselnehmer, sich zu ergeben. Bundesinnenminister Rudolf Seiters erklärte, man werde „den Terror militanter Kurden“ nicht dulden.

Während der Verhandlungen am Vormittag erlitt eine der Münchner Geiseln einen Herzinfarkt. Der Mann wurde in ein Krankenhaus gebracht. Eine Frau erlitt einen Schwächeanfall und wurde ebenfalls freigelassen.

Im südfranzösischen Marseille ging eine Geiselnahme bewaffneter Kurden im türkischen Konsulat am Nachmittag ohne Blutvergießen zu Ende. Die vier Geiselnehmer verließen das Konsulat mit erhobenen Händen und stellten sich der Polizei. Zuvor haten sie auf eigenen Wunsch mit Journalisten sprechen können und sich dabei als Mitglieder der PKK ausgegeben. Nach dem Ende der Geiselnahme, die rund drei Stunden gedauert hatte, durchsuchte die Polizei das Konsulatsgebäude nach Waffen und Sprengstoff.

Bei einem Schußwechsel zwischen kurdischen Demonstranten und Sicherheitsbeamten der türkischen Botschaft in der Schweizer Hauptstadt Bern starb gestern mindestens ein Kurde, sieben Personen wurden verletzt. Bei den Verletzten soll es sich nach Angaben des Schweizer Fernsehens neben einem Polizisten um kurdische Demonstranten handeln, von denen sich zwei in kritischem Zustand befinden. Die Schweizer Polizei wollte Berichte nicht bestätigen, nach denen aus der türkischen Botschaft heraus das Feuer eröffnet wurde.

Die türkische Regierung forderte die Festnahme und Auslieferung der Täter. Gespräche mit den Kurden lehnte sie ab, weil sie „mit Terroristen nicht verhandelt“. Die Botschafter der europäischen Staaten, in denen Kurden Aktionen starteten, wurden in Ankara einbestellt.

Zeitgleich mit der Konsulatsbesetzung in München wurden in anderen deutschen und europäischen Städten auf türkische Einrichtungen – Banken, Büros von Fluggesellschaften und Konsulate – Anschläge verübt. In Nordrhein-Westfalen verursachten Aktionen von Hunderten von Kurden Sachschäden in Höhe von mehreren 100.000 Mark. In Düsseldorf, Köln, Duisburg, Gelsenkirchen, Essen, Dortmund, Münster, Bonn und Hürth kam es zu Krawallen. In Essen wurden zwei Polizisten leicht verletzt, in Bonn blockierten etwa 80 PKK-Anhänger die Eingänge zur türkischen Botschaft.

Bei Anschlägen in Stuttgart, Ulm und Mannheim entstanden ebenfalls Schäden in Höhe von etlichen zehntausend Mark. In Karlsruhe blockierten rund 40 Kurden das türkische Konsulat. Bei einer Blockade des türkischen Konsulates in Hannover wurden 30 Personen in Gewahrsam genommen. In Frankfurt/Main stürmten mehrere Unbekannte zwei Geschäftsstellen einer türkischen Bank. In Dortmund demolierten zehn Männer eine Filiale der „Pamuk-Bank“.

In Hamburg verwüsteten zwei Gruppen mehrere türkische Firmen und versuchten, das türkische Generalkonsulat zu stürmen. In Berlin demolierten ebenfalls vermutlich Kurden drei türkische Banken. Tagesthema Seite 3