Modell des Schreckens für das Europa der Nazis

■ Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen ist nun der Öffentlichkeit zugänglich

Sachsenhausen ist das am schlechtesten erforschte KZ in Europa, sagt der Historiker Günter Morsch, seit Januar Leiter der Gedenkstätte. Das will er ändern. So hat er kürzlich in Moskau vereinbart, daß der dort im Staatsarchiv ruhende Bestand von 80.000 Blatt SS-Unterlagen fotokopiert und Kiste für Kiste nach Oranienburg gebracht wird. 8.000 Blatt sind schon da, die nächste Lieferung kommt im Herbst. Haben möchte er auch die Unterlagen des Sachsenhausen-Prozesses von 1947, den deutschen Forscher bisher nur aus einem Zeitungsbericht kennen. „Es ist undenkbar“ sagt Morsch, „neue Ausstellungen über das Konzentrationslager zu machen, ohne die Quellen gesichtet zu haben.“ Das gilt vor allem für die Folgegeschichte 1945 bis 1950, als das Gelände den Sowjets als Internierungslager diente. Mindestens 160.000 – bislang unausgewertete – NKWD-Akten liegen im Moskauer Militärarchiv. „Wir müssen uns vorerst auf das nationalsozialistische KZ konzentrieren“, meint Morsch, „und die vor Ort lagernden Unterlagen nutzen.“

Die Voraussetzungen dazu hat er jetzt geschaffen, und darauf ist er stolz. Gestern wurden in Anwesenheit des brandenburgischen Kulturministers Hinrich Enderlein (FDP) das völlig neu gestaltete Archiv und der Leseraum der Bibliothek eröffnet. In der DDR, die den Antifaschismus für sich gepachtet hatte, blieb Normalinteressierten, aber auch Historikern das eigenständige Forschen verwehrt. Die Bestände in Sachsenhausen durften nur die Gedenkstätten-Mitarbeiter benutzen, und auch die nur mit Vorbehalt. Es gab Häftlingsdossiers, erzählt Günter Morsch, die, wenn sie nicht in das „rote Bild“ paßten, einen „Sperrvermerk“ trugen, auf einer Akte sei gar vermerkt: „Ist zu liquidieren“. Den Gedenkstättenleiter packt jedensmal die Wut, wenn er sieht, wie „verlogen“ die DDR mit der Vergangenheit umgegangen ist.

Um so stolzer ist er, daß jetzt Archiv und Bibliothek für die Öffentlichkeit bereitstehen. 2.800 Bücher sind vorhanden, alles Literatur über die Geschichte des Nationalsozialimus, darunter spezielle Werke zur Entstehung des KZ-Systems. Sachsenhausen war das erste große KZ und Modell für alle weiteren, hier wurden die Lagerkommandanten, zum Beispiel Rudolf Höß, für ihre Todesarbeit in Auschwitz und im ganzen Osten geschult. Im „T-Gebäude“, dem heutigen Finanzamt befand sich die zentrale „Inspektion der Konzentrationslager“. Insofern hat Sachsenhausen eine „europäische Bedeutung“, sagt Günter Morsch, was der Staat Israel auch erkannt hat und deshalb den Ort zu einer „zentralen deutschen Gedenkstätte“ für die ermordeten europäischen Juden machen möchte.

Im Archiv, der Bestand beträgt über 100 Meter, liegen 1.600 Häftlings-Erlebnisberichte, darunter 277 als Tonbandaufzeichnung, sowie 18.000 Kopien, darunter auch die aus Moskau. Günther Morsch appellierte bei der Eröffnung an ehemalige Lagerinsassen, ihre persönlichen Erinnerungen zur Verfügung zu stellen. Erste Dokumente wurden gestern vorgestellt, darunter eine Original-Häftlingsmappe der Gestapo, Zeichnungen, Bücher sowie Häftlingskleidung. Ein norwegischer ehemaliger KZ- Insasse sagte: „Es ist gut zu erleben, wie heute in Deutschland über die Vergangenheit nachgedacht wird.“ Das könnte besser werden, meint hingegen der Gedenkstättenleiter. Zwar kommen jährlich etwa 200.000 Besucher nach Sachsenhausen, darunter sehr viele aus dem Ausland, aber das Interesse der Oranienburger sei „eher mager“. Günter Morsch möchte deshalb den Lehrern und Schülern die Schwellenangst nehmen. Das Archiv soll demnächst nicht mehr nur nach einem Gang durch das KZ-Gelände betretbar sein, sondern direkt von außen. „Vielleicht veranstalten dann Lehrer hier ihren Geschichtsunterricht.“ Anita Kugler