Kongreß per Gebärde

■ Zwei Kongresse richten sich an lesbische und schwule Gehörlose / Aids-Aufklärung geht an Gehörlosen vorbei

Während des Seminars herrscht Stille im Raum. Welche Sexualtechniken ein Risiko der Aids-Infektion in sich tragen, wird allein mit Händen und durch Mimik besprochen. Küssen und Massage – absolut ungefährlich, da sind sich die neun Teilnehmer einig. Nur einer fragt noch einmal wegen Zahnfleischblutens nach. Faustficken dagegen löst heftige, aber lautlose Diskussionen aus. Sogar für „empfindliche Darmschleimhaut“ oder „Einweghandschuh“ gibt es gebärdensprachliche Ausdrucksformen.

Anläßlich des Christopher Street Days organisierte die Deutsche Aids-Hilfe ein Seminar über Aids für schwule gehörlose Männer. „Gehörlose haben normalerweise überhaupt keine Informationen zum Thema Aids“, sagen die Hände von Seminarleiter Horst Havemann, für die taz von einem Gebärdensprachdolmetscher übersetzt. Gehörlose bekommen die Texte in Ferseh- und Kinospots nicht mit, da es keine Untertitel oder eingeblendete Dolmetscher gibt. Da in Deutschland Sprache über das Hören gelehrt wird, haben sie oft ein schlechtes Sprachverständnis. Ein Satz wie „Gib Aids keine Chance“ ist dann unverständlich. Weder das Wort „Aids“ noch „Chance“ befindet sich in ihrem Wortschatz.

Trotzdem sind sie von Aids genauso betroffen wie andere auch. Erst vorletzten Donnerstag starb der sechste Gehörlose in Berlin daran. Gestern wurde er beerdigt.

Wenn Havemann Ansteckungswege, Aids-Tests oder medizinische Aspekte erläutert, verwendet er auch pantomimische Elemente und Dias. Immer wieder fragt er nach, ob alles verstanden wurde. „Wenn Gehörlose mit Hörenden zusammen Veranstaltungen besuchen, nicken sie meist freundlich, auch wenn sie nichts verstehen.“

Seit 1985 gibt es mit der „Gemeinschaft der verkehrten Gehörlosen“ den ersten Verein für gehörlose Homosexuelle in Berlin mit inzwischen über 60 Mitgliedern. „Die Eltern halten sich für gestraft genug mit einem behinderten Kind, wenn es dann auch noch schwul ist, wird es ganz schwierig“, sagt Dolmetscher Joern Gerkens. Da Schwule auch innerhalb der Gehörlosenverbände diskriminiert würden, ordneten sich die Vereine eher der Schwulenszene zu. Sie haben die Vermittlung von schwulem Selbstbewußtsein, Aids- Aufklärung und den Kampf um Anerkennung der Gebärdensprache zum Ziel. „Konkret fordern wir Krankenpfleger auf Aids-Stationen, die zumindest die Gebärdensprache können“, sagt Ko-Leiter Rolf Puttrich-Reignard.

Auf dem ersten Lesbenkongreß für Gehörlose am Donnerstag ging es nur am Rande um Aids. Die 20 Teilnehmerinnen wollten sich kennenlernen und Erfahrungen austauschen. „Die meisten gehörlosen Lesben haben zu wenig Informationen, zum Beispiel über Safer Sex und Vergewaltigung“ schreibt eine Teilnehmerin auf. „Bei lesbischen Gehörlosen gibt es viel Einsamkeit“, sagen die Gebärden einer anderen. „Viele Frauen haben Angst, sie können auch mit ihren Eltern nicht offen sprechen.“ Der Kongreß solle Mut machen und ein Anfang sein, sich zusammenzuschließen. Die meisten verstecken sich noch. Nur drei Mitglieder der „verkehrten Gehörlosen“ sind Frauen. Corinna Raupach

Gemeinschaft der verkehrten Gehörlosen, Schönhauser Allee 36/39, 10435 Berlin