Ideal einer vollkommnen Zeitung

Erstmals veröffentlicht Herbst 1784, Berlin  ■ Von Karl Philipp Moritz

Schon lange habe ich die Idee mit mir herumgetragen, ein Blatt für das Volk zu schreiben, das wirklich von dem Volke gelesen würde, und eben dadurch den ausgebreitetsten Nutzen stiftete. Diesen Gedanken, nahm ich mir vor, erst hinlänglich bei mir reif werden zu lassen, ehe ich ihn je zur Ausführung brächte. Seitdem ist aber diese Idee durch verschiedene elende Schmierer so oft gemißbraucht und herabgewürdigt worden, daß ich es manchmal nicht ohne Ärger und Unwillen habe mit ansehen können.

Endlich fiel ich darauf, daß eine einmal eingeführte und gelesene Zeitung vielleicht das beste Vehikel sei, wodurch nützliche Wahrheiten unter das Volk gebracht werden könnten. Dies bewog mich vor einigen Monaten zu dem Entschluß, mit den Herrn Voß und Sohn in Verbindung zu treten, um die hiesige Zeitung, welche in deren Verlage herauskömmt, zu schreiben.

Seitdem ist mir meine erste Idee immer lebhafter und immer wichtiger geworden, so daß ich mich nicht enthalten konnte, mir zuweilen in reizenden Träumen der Phantasie das Ideal einer vollkommnen Zeitung zu denken, und einige Züge davon zu entwerfen. Mag ich dann dieses Ideal auch nie erreichen, so wird es doch immer das höchste Ziel bleiben, wornach ich strebe, und komme ich ihm jemals nahe, so glaube ich schon dadurch einen der edelsten Zwecke des Schriftstellers erreicht zu haben.(...)

Nun ist aber vielleicht unter allem, was gedruckt wird, eine öffentliche Zeitung oder Volksblatt, aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet, bei weitem das wichtigste. Sie ist der Mund, wodurch zu dem Volke gepredigt, und die Stimme der Wahrheit, so wohl in die Paläste der Großen als in die Hütten der Niedrigen dringen kann. Sie könnte das unbestechliche Tribunal sein, wo Tugend und Laster unparteiisch geprüft, edle Handlungen der Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit gepriesen, und Unterdrückung, Bosheit, Ungerechtigkeit, Weichlichkeit und Üppigkeit mit Verachtung und Schande gebrandmarkt würden.

Sie sollte die Werke des Geschmacks in der Baukunst, Musik, Malerei, Schauspiele usw. vor ihren unparteiischen Richterstuhl ziehen, und sie vorzüglich in Rücksicht ihres Einflusses auf die Bildung und den Charakter der Nation, und nicht bloß als Gegenstände der Belustigung, betrachten.

Aus dem ungeheuren Umfange der Wissenschaften sollte sie dasjenige herausheben, was nicht bloß den Gelehrten, oder gar nur eine besondere Klasse der Gelehrten, sondern die ganze Menschheit interessiert. Was nicht bloß hinzugetragene Materialien zu dem großen Gebäude irgendeiner Wissenschaft, sondern etwas Vollendetes, von Schlacken gesäubertes, und durch den echten Stempel der Wahrheit ausgeprägtes Gold ist, das nun unter dem Volke, unbeschadet der Ruhe und Glückseligkeit desselben, in wohltätigen Umlauf kommen kann.

Sie sollte in alle Fugen der menschlichen Verbindungen einzudringen, und aufzudecken suchen, was in jedem Zweige derselben Lobens- oder Tadelnswertes, Verachtungs- oder Nachahmungswürdiges sei. Ihr sollte kein Gewerbe, kein Stand, selbst der Stand des verachteten und größtenteils unterdrückten und tyrannisch behandelten Lehrburschen des gemeinen Handwerkers nicht unwichtig sein.(...)

Die öffentliche Handhabung der Gerechtigkeit, wobei uns erlaubt ist, Zuschauer zu sein, müßte einen reichen Stoff zu wichtigen Beobachtungen hergeben. Und würde gewiß, gehörig bearbeitet, einen sehr interessanten Artikel in einer Zeitung für das Volk ausmachen.

Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den Kriminalakten gezogen, wie belehrend müßte sie sein, wenn die allmählichen Übergänge von kleinen Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein auffallenden Zügen darin gezeichnet wären!

Die feierlichen und festlichen Zusammenkünfte des Volks, ja sogar seine Ausschweifungen in öffentlichen Häusern müßten nicht unbemerkt bleiben, sondern zur öffentlichen Beschämung unsrer weichlichen entnervten Generation mit lebhaften Farben geschildert werden.

Aber auch das Elend und die Armut in den verborgnen Winkeln muß aufgedeckt, und nicht aus einer falschen Empfindsamkeit vor unserm Blick in Dunkel eingehüllt werden. Das Elend, wenns einmal da ist, muß unter uns zur Sprache kommen, und auf Mittel gedacht werden, wie man demselben abhelfen kann!

Also edle Beispiele; Künste, Theater; Kenntnisse, die zum Umlauf reif sind; Erziehung; Predigtwesen; nützliche Erfindungen; Handhabung der Gerechtigkeit; Geschichte von Verbrechern; menschliches Elend im Verborgnen; – welche wichtige Artikel zu einer Zeitung für das Volk!

Und wie viel mehrere lassen sich nicht noch denken, als: Volksvorurteile; Volksirrtümer; religiöse Schwärmerei; unerkanntes Verdienst; usw. – Wahrlich es ist zu verwundern, da man bisher so viel von Aufklärung geredet und geschrieben hat, daß man noch nicht auf ein so simples Mittel, als eine Zeitung, gefallen ist, um sie in der Tat zu verbreiten.(...)

Fortsetzung Seite 17

Fortsetzung von Seite 16

Die Aufmerksamkeit müßte daher vorzüglich auf den einzelnen Menschen geheftet werden: denn nur da ist die wahre Quelle der großen Begebenheiten zu suchen, nicht in Kriegsheeren und Flotten, die oft nur wie zwei entgegengesetzte Elemente gegeneinander wirken, worunter das Stärkere allemal über das Schwächere den Sieg behält.

Auch sind ja das nicht immer die größten Begebenheiten, wobei die meisten Menschen beschäftigt sind, sondern diejeniggen, wobei sich irgendeine menschliche Kraft am meisten entwickelt. Dergleichen suche man unter dem Schwall von Kriegsrüstungen, Fürstenreisen, und politischen Unterhandlungen herauszuheben, damit das Volk nicht mehr Titel und Ordensbänder, fürstlichen Stolz und fürstliche Torheiten mit dummer Verehrung anstaune, sondern den wirklich großen Mann auch im Kittel und hinter dem Pfluge schätzen lerne.

Sobald man zu viele Menschen zusammenfaßt, um von ihnen etwas zu sagen, so muß das, was man sagt, notwendig unbestimmt, schwankend, und trocken werden.

Denn in einer Gesellschaft von Menschen, sie sei, welche sie wolle, handeln doch nur immer einzelne Menschen, und diese sind es nur, welche unsere Teilnehmung erwecken, nicht die ganze Gesellschaft. Diese ist höchstens ein abstrakter Begriff, dessen wir uns aus Not bedienen müssen, der uns aber nicht mitdenken, empfinden, und handeln läßt. Da wir selbst nur einzelne und nicht aus mehrern zusammengesetzte Wesen sind, so können wir auch mit einem so vielköpfigen zusammengesetzten Dinge, als irgendeine menschliche Gesellschaft ist, sie heiße nun Staat oder wie sie wolle, im eigentlichen Verstande nicht sympathisieren, wenn wir sie nicht wieder bis auf das Indidviduum vereinzeln. Abstrakte Begriffe können ja die Seele nicht erwärmen.

Bloß die verschiednen Gesinnungen und Charaktere der einzelnen Mitglieder des Englischen Parlaments, machen die Verhandlungen desselben so interessant, und zum Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit auch solcher Nationen, die mit der Englischen in wenig oder gar keiner Verbindung stehen.

Sicher erwecken die Beratschlagungen an sich selber mehr unsre Teilnehmung, als die Resultate, welche daraus entstehen. Denn was heißt es nun, wenn man sagt: Frankreich hat dieses oder jenes beschlossen, usw. als ob Frankreich ein selbstständiges handelndes Wesen wäre, das so wie ein einzelner Mensch, wirklich etwas beschließen könnte. Gibt mir dies nun wohl mehr Stoff zum Nachdenken, als wenn es heißt: in Paris ist ein starker Hagel gefallen, oder in Metz hat das Gewitter eingeschlagen?

Und ist nicht das Hinarbeiten auf einen Zweck im menschlichen Leben ebenso wichtig und vielleicht wichtiger, als die Erreichung des Zwecks selber? Macht nicht die Tätigkeit selbst unser Wesen aus? und läßt uns nicht vielleicht eine wohltätige Täuschung diese Tätigkeit bloß deswegen, als das Mittel zu irgendeinem Zwecke betrachten, damit dieser anscheinende Zweck das Mittel werde, uns eine Zeitlang in eine bestimmte, zweckmäßige Tätigkeit zu versetzen?

Ist es also nicht wichtiger, einzelne Fakta von einzelnen Menschen zu sammlen, woraus einmal künftig große Begebenheiten entstehen können, als eine Menge von großen Begebenheiten zu erzählen, ohne zu wissen, wie sie entstanden sind? – Dies soll auf keine Weise, die großscheinenden Begebenheiten von der öffentlichen Bekanntmachung ausschließen, nur müssen sie nicht der wichtigste Gegenstand der Aufmerksamkeit werden.(...)

Demohngeachtet muß eine vollkommne Zeitung auch in Ansehung der eigentlichen politischen Ereignisse mit der Zeit gleichen Schritt halten, aber doch mehr in einzelnen Beispielen zu zeigen suchen, was diese Ereignisse nun eigentlich auf das Wohl oder Weh der Menschheit für einen Einfluß haben. Denn nur das Einzelne ist wirklich, das Zusammengefaßte besteht größtenteils in der Einbildung.

Vorzüglich muß also eine vollkommene Zeitung aus der gegenwärtigen würklichen Welt, die man täglich vor Augen sieht herausgeschrieben werden, und zu dem Ende notwendig in einer großen Stadt herauskommen, wo wegen der Menge der Menschen auch die größte Mannigfaltigkeit in ihren Charakteren, Beschäftigungen, und Verbindungen herrscht; wo ein beständiger Zufluß von Merkwürdigkeiten stattfindet, und wo sie sogleich von vielen tausend Menschen gelesen werden kann, ohne erst versandt werden zu dürfen. Wer eine solche Zeitung schreiben will, muß selbst, so viel er kann, mit eignen Augen beobachten, und wo er das nicht kann, muß er sich an die Männer halten, die eigentlich unter das Volk, und in die verborgensten Winkel kommen, wo das Edelste und Vortrefflichste sowohl, als das Häßlichste und Verabscheuungswürdigste, sehr oft versteckt zu sein pflegt.(...)

Er muß sich aber auch selber unter das Volk mischen, um seine Urteile, seine Gesinnungen zu hören, und seine Sprache zu lernen.

Er muß nichts weniger als ein einseitiger Gelehrter sein, sondern sich für alles interessieren können, was ihm nur irgend aufstößt, und sich täglich in der schweren Kunst üben, alles Vielfache unter irgend einen großen und wichtigen Gesichtspunkt zu bringen. Er muß die gegenwärtige Welt vorzüglich kennen lernen, und von der alten so viel, als nötig ist, um das Gegenwärtige daraus zu erklären. Und was noch das allerwichtigste ist, er muß sich eines unbescholtnen Charakters befleißigen, denn nur das berechtigt, mit einer edlen Freimütigkeit öffentlich vor dem Volke zu reden und zu schreiben.(...)

Ich erwarte nun über meine Vorschläge das Urteil des Publikums, mit welchem ich mich vor dem Schlusse des Jahres noch einmal über diese Angelegenheit zu unterreden gedenke, um zu erfahren, inwieweit ich mich, mit der Zufriedenheit desselben, meinem Ideale nähern darf.

Aus: K. Ph. Moritz, „Werke“ in drei Bänden, hrsg. von Horst Günther, Insel-Verlag (gerade wieder neu aufgelegt)

Vom 1. September 1784 bis zum Frühsommer 1785 war Moritz Redakteur der Vossischen Zeitung in Berlin.