Karl Philipp Moritz

■ Eine taz-Aktion zu seinem 200. Todestag

Jean Paul, den er eben erst aus der Finsternis der vogtländischen Provinz heraus entdeckt und im aufklärungshellen Berlin seinen ersten Roman, der „Unsichtbaren Loge“, zum Druck befördert hatte; Jean Paul, der gerade an ihm schrieb, an dem Menschheitslehrer Emmanuel für den „Hesperus“, als die Nachricht aus Berlin eintraf, daß Karl Philipp Moritz plötzlich, aber keineswegs so unerwartet, an seiner verschleppten Tuberkulose gestorben war – Jean Paul wußte sich vor Trauer kaum zu fassen. Nun sei er im Jenseits nicht einmal in der Lage, seinen Förderer, den er nie gesehen, zu erkennen und zu begrüßen, wenn er ihm begegnete.

Nur 36 Jahre wurde Karl Philipp Moritz alt. In gerade dreizehn Jahren hat er an die fünfzig Bücher geschrieben, eine Götterlehre darunter, eine Verteidigung der Freimaurerei, eine Sprachfibel für Damen, weiter Reiseberichte und Übersetzungen aus dem Englischen (und war doch im Hauptberuf Lehrer, später Professor, gelegentlich auch noch Redakteur). Er hat Salomon Maimons Lebenserinnerungen herausgegeben und zehn Jahre lang das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, eine Zeitschrift, mit der, hundert Jahre vor dem Briefwechsel zwischen Josef Breuer und Sigmund Freud, die Psychoanalyse beginnt.

Vor allem aber hat er eine (wie Jean Paul die seine nennt:) Selberlebensbeschreibung herausgebracht, den (wie Moritz ihn selber bezeichnet:) psychologischen Roman „Anton Reiser“ (1785 bis 1790 in vier Teilen erschienen), ein Buch, „wie es kein anderes Volk der Erde besitzt“ (Arno Schmidt).

Doch, ja, es gab schon Vorläufer, es gab die Lebensbeichten der Pietisten, die sich nur mit einem ordentlichen Rechenschaftsbericht vor ihren Schöpfer wagten oder ihren Kindern etwas über den rechtschaffenen Weg zum Licht hinterlassen wollten; es gab die „Bekenntnisse“ Jean-Jacques Rousseaus und dieser oder jener schönen Seele. Aber keiner ging so grausam und folglich so genau mit sich selber um, für keinen verlief der arge Weg der Erkenntnis so beharrlich über die eigene „Seelenlähmung“, keiner hatte eine so erbärmliche, eine derart „von der Wiege an unterdrückte“ Jugend zu bieten wie der 1756 in Hameln geborene Moritz.

Die weltverachtende Frömmelei seines Vaters hielt das Kind von der öffentlichen Schule fern; Moritz kam zu einem bigotten Hutmacher in die Lehre, der ihn zur höheren Ehre des Ersterbens in deo gnadenlos ausbeutete und an den Rand des Selbstmords trieb. Damit fürs erste dem ewigen Seelenheil entronnen, durfte Moritz mit einem Stipendium des hannöverschen Prinzen endlich auf die Schule, allein, die perfide Gnadenwaltung von sieben Freitischen die Woche, an denen er sich, demütig und gottesfürchtig, wie sich das für einen so armen Schlucker gehörte, herumessen sollte, stürzte ihn noch tiefer ins Unglück.

Schauspieler wollt er werden, und fort, weit fort: „Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – “

Mit diesem Zitat aus dem „Anton Reiser“ beginnt Peter Handkes Roman „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1972). Handkes Hinweis auf Karl Philipp Moritz, der – ähnlich wie sein Seelenfreund Jean Paul – den Gattungs- Gärtnern die größte Mühe beim Einsortieren machte; den selbst noblere Literaturgeschichten vorsichtshalber aussparten; dem es im Bewußtsein selbst der zünftigen Germanistik an geschmeidiger Klassizität gebrach (die konnten sich die Männerfreunde Goethe & Schiller doch auch erwerben!); Handkes Hinweis also auf Moritz verhalf dem geringgeachteten Berliner Aufklärer zu einer Renaissance.

Seit 1972 sind immer neue Ausgaben des „Anton Reiser“ erschienen (die besten bei Reclam und bei dtv), bei Greno war einmal sogar eine auf dreißig Bände angelegte Gesamtausgabe angekündigt, die jetzt (vielleicht, hoffentlich) vom Klassiker-Verlag zu erwarten ist. Bis heute gibt es von Moritz weder eine Biographie noch eine Werkausgabe.

Peter Handke, der taz seit seinem Beitrag zur Jugoslawien-Debatte im vergangenen August verbunden, stattet in einem Gedenkblatt nochmal seinen Dank an Moritz ab. Ergänzt wird die Hommage zu Moritz' 200. Todestag mit einer 1808 im Morgenblatt für gebildete Stände (einer, wie anders, frühen Vorläuferin der taz) erschienenen Anekdote. Schließlich bringen wir das (leicht gekürzte) „Ideal einer vollkommnen Zeitung“, mit dem Moritz 1785, wie soll man sagen: naturgemäß bei der Vossischen Zeitung scheiterte. Willi Winkler