■ Nach der Wahl des neuen SPD-Vorsitzenden:
: Scharping will, aber was will er?

Zur Selbstsuggestion sind Sozialdemokraten noch allemal fähig. Seit dem Bonner Machtverlust vor gut zehn Jahren haben sie gestern ihren dritten Vorsitzenden und vierten Kanzlerkandidaten gewählt, und wieder glaubt's sich die Partei, daß es nun aufwärts geht. Das macht es nicht gerade einfacher, die Realitätshaltigkeit des jetzt in der Person Rudolf Scharpings inszenierten Aufbruchs einzuschätzen. Da präsentiert sich einer selbstsicher und machtbewußt, der viel von Personen, Programm und Integration redet, um dann in einer Mischung aus biederer Zurückhaltung und leicht anmaßender Entschlossenheit die beiden wichtigsten Ämter der krisengeschüttelten Partei zu übernehmen. Dieser Start und die andere pfälzische Erfahrung – Helmut Kohl, der seine unangefochtene Machtposition in Partei und Republik ja auch nicht mit intelektuellem Glanz erobert hat – werden Rudolf Scharping kaum die Chance lassen, allzu lange unterschätzt zu werden. Die anfänglich grassierende Herablassung über den provinziell-altväterlichen Stil des neuen Hoffnungsträgers jedenfalls klingt schon merklich am Thema vorbei.

Dennoch, ganz alleine wird auch ein unerwartet forscher Scharping die Krise der Partei nicht angehen wollen. Sein für sozialdemokratische Verhältnisse nicht gerade üppiges Wahlergebnis wird ihn wohl ohnehin daran hindern, von der Machtkonstellation in der Partei leichtfüßig abzuheben. Seine Erfolgschancen werden weiterhin davon abhängen, ob es ihm gelingt, die führenden Köpfe der Enkelgeneration, denen gegenüber er selbst herablassend klingende Untertöne parat hat, noch einmal zu integrieren. Mit Lafontaine, den er brauchen wird, um seine eigene programmatische Blässe nicht der Partei zu verleihen, scheint er ein tragfähiges Arrangement getroffen zu haben. Gerhard Schröder hingegen, der an der Basis Gescheiterte, kündigt Bonner Einfluß – von Hannover aus an. Das klingt altbekannt.

Ein wenig altbekannt wirkt auch, daß Scharping – mit dem spektakulären Basisvotum ins Amt gehievt – die innovative Chance der Mitgliederbefragung kaum offensiv zu nutzen gewillt ist. Kontrolle scheint eine zentrale Kategorie des neuen Vorsitzenden, die mit der schwer kalkulierbaren Partizipation der Basis nur schlecht zusammengeht. Doch Scharping will Kanzler werden, in einem Land, in dem Gesellschaft und Politik auseinanderdriften, gerade weil die Entwicklung in vielen Bereichen unkalkulierbar zu werden droht. Die Mitgliederbefragung jedenfalls böte die Möglichkeit eines parteipolitischen Innovationsschubs, mit dem die Lücke zwischen Gesellschaft und Politik vielleicht verringert werden könnte. Diese Chance zu propagieren, mit der Scharping dem Wahlparteitag ein handfestes Signal seines Erneuerungswillens hätte geben können, hat er verpaßt. Statt dessen speiste er die Delegierten mit eher lauen Floskeln ab, an denen nirgends erkennbar wurde, daß der Neue schon weiß, was an inhaltlichen Herausforderungen auf die Partei zukommt. Eher als sein Vorgänger hätte er die Statur, sie durchzustehen. Aber sieht er sie? Die ruinöse Art, wie die Petersberger Beschlüsse zustande kamen und dann in den Verhandlungen mit der Koalition verhackstückt wurden, sind ein Menetekel. Kein Zweifel, Rudolf Scharping will. Was das für die künftige Politik der Sozialdemokratie bedeutet, ist bis auf weiteres offen. Matthias Geis