„Ohne Druck bewegt sich nichts“

■ Über die Bedeutung der 68er diskutierten die RebellInnen von einst in Recklinghausen / Debatte in ruhigen Bahnen

Recklinghausen (taz) – Erinnerungen: 1968, die große Demonstration gegen den Vietnamkrieg lag gerade 14 Tage zurück, da machte sich der junge Gymnasiallehrer Peter Borggrefe, mit seiner Klasse von Wattenscheid kommend, auf nach Berlin. Inspiriert von einer Diskussion zwischen Rudi Dutschke und Johannes Rau am heimatlichen Gymnasium, wollte man die studentischen Akteure persönlich in Augenschein nehmen. Doch bevor die Reisegruppe die Universität erreichte, erlebte sie das andere Berlin: Eine Stadt demonstrierte Freundschaft mit den USA. Tausende waren der vom Senat und den Gewerkschaften organisierten „Jubel-Demo“ gefolgt. An ein ÖTV-Plakat erinnert sich Borggrefe, inzwischen Stadtdirektor in Recklinghausen, noch heute. „Laßt Arbeiter ruhig schaffen, kein Geld für langbehaarte Affen“. Daß es heute undenkbar erscheint, während einer gewerkschaftlichen Demonstration auf ein solches Plakat zu stoßen, belegt vielleicht mehr als viele Worte den politischen Wandel.

Welchen Anteil hatten daran die 68er? War 68 mehr als ein Mythos? So lautete das Motto einer zweitägigen Diskussion, die im Rahmen der Ruhrfestspiele eine ganze Reihe der Akteure in Recklinghausen mit ihren konservativen Gegenspielern aufeinandertreffen ließ. Während Helmut Kohl erst jüngst wieder, während der Bundestagsdebatte, versucht hatte, die 68er für den gesellschaftlichen Werteverfall haftbar zu machen, waren sein Staatssekretär Norbert Lammert, 1968 als junges CDU-Mitglied in Bochum studierend, und der ehemalige Juso- Funktionär Johanno Strasser darüber einig, daß das größte Verdienst der 68er darin bestanden habe, die Bundesrepublik Deutschland „in eine normale westliche Demokratie verwandelt zu haben“. Während viele Konservative im Zusammenhang mit 1968 vom „Sündenfall“ der demokratischen Entwicklung sprechen, glaubt Lammert, daß sich nicht zuletzt die CDU durch die 68er-Bewegung vom Kanzlerwahlverein „zu einer ganz normalen Partei“ gewandelt habe. Richtig böse mochte Lammert den 68ern nicht sein. Das lag vielleicht auch daran, daß die anarchistischen und militanten Strömungen der Bewegung in Recklinghausen nicht mit am Tisch saßen, geschweige denn zum Thema wurden. Viel wurde über habituelle Änderung gesprochen, wenig über die These von Bernd Rabehl, die 68er seien in den Kernfragen gescheitert – und zwar „an sich selber“. Anders als etwa die frühe Jugendbewegung sei es den 68ern nicht gelungen, eine eigene Tradition zu stiften. Am erfolgreichsten waren nach Auffassung von Konrad Adam, FAZ-Redakteur, jene 68er, die den Marsch durch die Institutionen angetreten seien und sich den „öffentlichen Dienst zur Beute genommen hätten.“ Eine Sicht, die ehemalige Aktivisten wie Knut Nevermann auf ihre Weise teilen. In der Zeit brachte Nevermann das Ende der 68er vor wenigen Tagen so auf den Punkt: „Wir sind weithin Träger des Staates, staatstragend.“ Genau das wollte der Kern der RebellInnen nie werden. Beamtenstatus mit Reihenhaus, die „schlimmste Befürchtung“ aus jenen Tagen, so ein Ehemaliger in Recklinghausen, seien wahr geworden. Nur für die Frauenbewegung zog Karin Derichs-Kunstmann eine positivere Bilanz. Die Frauen hätten einen längeren Atem bewiesen, es sei ihnen gelungen, mehr von ihren Inhalten zu retten, und in der Gesellschaft sei es geglückt, trotz aller Rückschläge – wie etwa bei dem § 218-Urteil – größeren Einfluß zu erlangen als jemals im SDS.

Und die Veränderungen im Bildungsbereich? Als der Bildungsforscher Picht 1964 den Begriff der Bildungskatastrophe prägte, erreichten vier bis acht Prozent der jeweiligen Schuljahrgänge das Abitur. Heute schließen knapp 50 Prozent der SchülerInnen mit dem Abitur ab. Schön und gut, entgegnete Hansgünther Heime, Theaterintendant aus Bremen und Chef der Ruhrfestspiele, aber das heutige Abitur vermittle doch kaum noch universelle Qualitäten. Der aktuelle Kapitalismus schlage auf „subtile Art alles zusammen“. Inzwischen sei das Widerstandspotential in Deutschland „so gering wie schon lange nicht mehr“. Die bundesdeutsche Politik sei von der „absoluten Unfähigkeit, noch an die Veränderung von Menschen zu glauben“ gekennzeichnet. Das habe nicht zuletzt die Asylgesetzgebung gezeigt. Eine „schreckliche Zeit“ sieht Heime kommen.

Auf eine neue außerparlamentarische Opposition hofft auch Hinrich Oetjen, Leiter der DGB- Bundesschule in Hattingen. Oetjen, 1968 schon Gewerkschaftsfunktionär, zur Bedeutung der 68er: „Für uns war die APO außerordentlich hilfreich. Ohne eine solche Bewegung, ohne den Druck von außen kann man auch innen wenig bewegen.“ Walter Jakobs