Verrückter Traum vom normalen Leben

Serie: Umland-Utopien (sechste Folge): Auf dem Wendtshof in Wallmow bauen „normale“ und „verrückte“ BerlinerInnen ein gemeinsames Leben jenseits der Schubladen der Psychiatrie auf  ■ Von Gerd Nowakowski

Am Anfang stand eine taz- Kleinanzeige. Der Bürgermeister der Gemeinde Wallmow, ein Grüner, bot darin den Gutshof des Ortes zur Nutzung an. So kam „Land in Sicht“ für den gleichnamigen Verein.

Zweieinhalb Jahre später sitzen wir in einer ehemaligen Tagelöhner-Kate, in dem jetzt die Bauleitung und das Büro untergebracht sind. Die Kate, mitten im Ortsteil Wendtsdorf gelegen, ist das erste sanierte Haus des Projekts. Draußen unter der Dachkante haben sich bereits wieder ein gutes Dutzend Schwalbenfamilien ihre Nester gebaut. Doch wieviel Arbeit noch nötig ist, ist gleich nebenan zu sehen. Das ehemalige Gutshaus ist fast völlig verfallen. Großflächig ist der Putz abgeblättert, das rohe Mauerwerk vom Wetter angenagt. Drinnen künden provisorische Stützen vom fragilen Zustand des Gebäudes.

Als die Gruppe hier anfing, da glaubte man noch, das Gutshaus instandsetzen zu können. Heute weiß man sehr viel genauer, wieviel das kosten würde – auch Hans Luger weiß es, von dem Pauline Krutz mit liebevollem Spott sagt, er sei „für das Poetische zuständig“. Die Mutter von zwei Kindern stammt aus Wallmow und war bis vor kurzem die Bürgermeisterin. Jetzt arbeitet sie im Büro des Vereins.

Sie ist nicht die einzige aus dem Ort, die bei „Land in Sicht“ beschäftigt ist. Insgesamt 21 Menschen aus Wallmow haben dort Arbeit gefunden. Auch wenn es bislang nur auf ABM-Basis passiert, bringt es dennoch für die Dörfler „Land in Sicht“. Schließlich sind die meisten in der Gegend nach dem Zusammenbruch der LPG arbeitslos geworden.

Für Hans Luger waren die guten Beziehungen zum Gemeinderat und die vom Projekt angebotenen Arbeitsplätze der „beste Einstieg für eine Akzeptanz“ im Dorf. „Wenn du Verrückte anschleppen willst, dann brauchst du eine gute Verankerung im Dorf“, weiß der großgewachsene Psychiater mit der hellblauen Brille und verweist auf ähnliche Projekte, die daran scheiterten. Jetzt seien es nicht mehr die „unheimlichen Irren, die in das Dorf einfallen“, sondern Menschen, mit denen man bereits zusammengearbeitet hat und festgestellt hat, daß die Verrückten eigentlich ganz normal sind. Genau dieses ist auch das Ziel von „Land in Sicht“: „Normale“ und „Verrückte“ sollen auf dem Hof ein gemeinsames Leben führen, in dem „die bestehenden Unterschiede nicht verwischt und ignoriert, aber auch nicht festzementiert werden in zwei Lager von ,Gesunden‘ und ,Kranken‘“.

Kennengelernt haben sich die meisten Vereinsmitglieder im „KommRum“, einem Kommunikationszentrum für „Verrückte“ und „Normale“ in Friedenau. Fast alle haben eigene Erfahrungen mit der Psychiatrie oder haben eine „Klinikkarriere“ hinter sich. Der spröde und zurückhaltende Luger hat in der Selbsthilfeeinrichtung „KommRum“ zwölf Jahre lang gearbeitet. Zusammen mit anderen hat er den Verein gegründet. Sie haben ihrer Ersparnisse zusammengeworfen und vom Dorf und der Treuhand das Gutsgelände mit mehreren Ställen und Scheunen gekauft; zehn weitere Hektar Land wurden gepachtet. Auf sehr verschiedenen Wegen stießen weitere Menschen zum Projekt. Ein Mitglied kam nach der Klinikentlassung fast zufällig auf den Wendtshof und blieb gleich dort. Und die sechzigjährige Maria Baranowski fand das Projekt so interessant, daß sie von Hamburg nach Wallmow umzog. Sie schätzt die „lose Geborgenheit“, die Nähe und Distanz erlaube: Das Leben auf dem Wendtshof sei „wie ein andauernder Abenteuerurlaub – nur daß dabei was herauskommt“.

Nahezu überall ist zu spüren, daß man noch am Anfang steht. Doch während man an zerfallenden Silos, an verrotteten Kaninchenställen vorbeigeht und durch hochaufschießendes Unkraut läuft, ist das Neue schon zu sehen. Auf der Feldfläche wurde mit dem Gemüseanbau begonnen. Zwei Gewächshäuser stehen schon. Im Spätsommer hofft man, mit den Produkten auf die Märkte des nahen Prenzlau gehen zu können. Unweit davon ist ein altes Gebäude von Grund auf saniert und zum Wohnhaus umgebaut worden. Die ABM-Kolonne ist gerade dabei, die große Terrasse im Obergeschoß fertigzustellen, und transportiert Sand mit dem Förderband hinauf, drinnen sind Elektriker und Tapezierer an der Arbeit. Bei der Renovierung wurden zusammen mit dem Berliner „Lehmbaukontor“ auch alte Bauverfahren wiederbelebt und zugleich die Beschäftigten weiterqualifiziert.

In wenigen Wochen werden im oberen Stockwerk sieben Leute in einer Wohngemeinschaft mit großer Wohnküche leben. Im Erdgeschoß ziehen vier Menschen ein, die bislang noch in psychiatrischen Kliniken der Umgebung untergebracht sind. Gleich daneben gibt es eine Wohnung für die Betreuer: Der zweiundvierzigjährige Hans Luger und seine Freundin, eine Beschäftigungstherapeutin, werden dort einziehen. Gegenwärtig wohnen die Vereinsmitglieder teilweise noch in Berlin, haben sich in Wallmow eingemietet oder leben in Wohnwagen oder Zirkuswagen auf dem Gelände.

Dreißig bis fünfzig Menschen sollen nach den Vorstellungen von „Land in Sicht“ einmal in Wendtshof leben, davon etwa fünfzehn, die vorher permanent in der Klinik untergebracht waren. Die Menschen, in der Klinik unmündig gemacht, sollen wieder lernen, sich selbst zu versorgen und mit ihren Krisen umzugehen, skizziert Hans Luger das Ziel: „Sie sollen draußen überleben können.“

Ein Platz soll entstehen, wo jeder Bewohner sich entsprechend seinen Fähigkeiten betätigen kann. Von der Psychiatrie soll das Leben nicht geprägt sein. Für die Menschen hier ist das Verrücktsein kein Thema, man spürt an den ausweichenden, vorsichtigen Antworten, daß diese Erfahrungen zwar nicht gerade eine Tabuzone sind, aber doch etwas, über das man nicht gerne spricht, weil man die Etiketten fürchtet. Auch die Namen möchte man nicht in der Zeitung lesen. Etliche Projektmitglieder haben den „Normalen“ schließlich nur die Erfahrung voraus, zu wissen, wie nahe die Grenze zur Krankheit liegt, wie unverhofft man plötzlich jenseits der „Normalität“ angelangt ist und wie mühselig die Gesellschaft den Weg zurück in ein „normales“ Leben macht. Nein, ein ausgelagertes Irrenhaus zu sein, ist das letzte, was ihnen vorschwebt.

Für Vereins-Geschäftsführer Jürgen Welteroth, der als „Normaler“ bereits im „KommRum“ arbeitete, ist das Zusammenleben mit „Verrückten“ längst kein Problem mehr. Er hat festgestellt, daß „deren Macken nicht weit weg von denen der ,Normalen‘ sind“. Eine Unbekannte in der Rechnung sind freilich die Menschen, die jetzt noch in stationärer Behandlung sind und hierher ziehen werden. Hans Luger, der leise spricht, hält mit den Grenzen des Projekts nicht hinter dem Berg: „Leute, die eine vierundzwanzigstündige Betreuung brauchen – das können wir nicht leisten.“

Auf dem Hof ist ein großes Achteck betoniert. Schon im Herbst soll dort ein Pavillon mit Ausschank stehen, der ein Treffpunkt für das ganze Dorf werden soll. Den großen Schweinestall möchte man ebenfalls zum Wohnraum ausbauen; weiterhin sollen ein Café und eine Werkstatt für den Bau von Sonnenkollektoren errichtet werden. Auch an eine Tagungsstätte ist gedacht. „An Ideen mangelt es nicht, aber die Umsetzung ist sehr viel mühseliger als gedacht“, gesteht Hans Luger, „deswegen bin ich auch nicht mehr so euphorisch wie vor einem Jahr.“ Zehn Jahre wird es wohl dauern, bis alles verwirklicht ist, schätzt auch der bärtige Betriebswirt Jürgen Welteroth, der dafür da ist, „die Träume auf den Boden zu bringen, damit sie Bestand haben“.

Aber schon greifen die Pläne über den Wendtshof hinaus. Man wolle schließlich kein abgeschottetes Projekt sein, sondern will in die „gesellschaftliche Verantwortung“ einsteigen. Deswegen wird in Kürze im nahen Prenzlau eine „Kontakt- und Beratungsstelle“ eröffnet. Auch dort sollen Arbeitsplätze geschaffen und eine Wohngemeinschaft eingerichtet werden, erzählt ein Mitarbeiter, der aus Prenzlau stammt. Regelmäßig werden auf dem Wendtshof Wochenend-Seminare durchgeführt. Am 17. Juli startet ein zweiwöchiges Sommer-Camp, wo „Verrückte“ und „Normale“ gemeinsam Ferien machen und gleichzeitig beim Aufbau helfen können.

In der Erfahrung eines früheren Workcamps kristallisiert sich für Jürgen Welteroth auch die Vision des Projekt. Eine teilnehmende Dorfbewohnerin habe wenige Tage später gefragt, wann denn endlich die „Verrückten“ kämen. Daß die „Verrückten“ schon da waren, hatte sie nicht bemerkt.

Kontakt: Land in Sicht e.V., Wendtshof 4, 0-2131 Wallmow

Die Serie wird am Freitag fortgesetzt.