■ Die PDS angesichts des Wahlmarathons 1994
: Zwei Kulturen unter einem Hut?

Im Unterschied zu den Ideologen der SED haben die Parteiintellektuellen der PDS Marx, Engels und Lenin tatsächlich gelesen. Aber im Gebrauch, den sie von den „Klassikern“ machen, unterscheiden sie sich nicht allzusehr von ihren Vorgängern. Es dreht sich vor allem um das richtige Zitat. André Brie hatte auf dem Parteitag der PDS am vergangenen Wochenende Friedrich Engels Aperçu zur Hand, wonach zwei Millionen Wählerstimmen (für die amerikanische Arbeiterbewegung) wichtiger seien als ein lupenrein marxistisches Programm. Paßt! Für die PDS ist es in der Tat nicht sonderlich bedeutsam, Tagesforderungen und Endziel (welches?) auf möglichst kunstvoll-dialektische Weise so zu verbinden, daß Pragmatiker wie Doktrinäre in der Partei gleichermaßen auf ihre Kosten kommen. Die Anwesenheit im nächsten Bundestag ist eine schlichte Überlebensfrage.

Für die Einsicht in diese Notwendigkeit steht ein weiteres Zitat bereit, diesmal von Carl von Ossietzky. Der prophetische Herausgeber der Weltbühne mahnt 1932 die Linke, angesichts der tödlichen Bedrohung durch die Nazis gemeinsam dafür einzustehen, daß ihre Substanz – Organisation und Menschen – gerettet wird. Paßt nicht so ganz. Gysi selbst warnt davor, 1993 und 1932 einfach zu parallelisieren. Aber der Vergleich des Endes von Weimar mit dem gegenwärtigen Rechtsdrift in der BRD ist auch bei ihm allgegenwärtig. Er produziert bei den Delegierten einen Emotionsschub, der alles einschließt: den Kahlschlag durch die Treuhand, deutsche Soldaten in Somalia, die Massenarbeitslosigkeit und die jüngste Kette von Brandanschlägen. Die Herrschenden, so Gysi, stehen in Gefahr, die Lektionen zu vergessen, die die Weltwirtschaftskrise von 1929 auch für sie bereithielt – und die sie nach 1945 beherzigten. Sie müssen gezwungen werden, ihren ökonomischen und politischen Katastrophenkurs zu korrigieren. Daher die Losung: Linke Opposition gegen rechte Experimente!

Bleibt nur die Frage, ob das reicht, 1994 die Fünf- Prozenthürde zu überwinden. Nicht nur die SPD, auch die PDS muß sich in der schwer erlernbaren Kunst des Spagats üben. Ihr Wählerpotential in der Ex-DDR reicht weit über den Kreis derer hinaus, die im Sozialismus konventioneller Prägung nach wie vor eine mögliche Alternative sehen. Den Erniedrigten und Beleidigten in den neuen Bundesländern fehlt es oft an avanciertem Bewußtsein, speziell, was die Ausländer- und die Frauen„problematik“ angeht. So wußte eine Delegierte aus Neuruppin zu berichten, keiner der PDS-Männer im Rat der Stadt sei zu einer politischen Aktion nach dem Abtreibungsurteil des Verfassungsgerichts zu bewegen gewesen. Und unter den Delegierten des Parteitags war jedesmal ein Raunen zu hören, wenn männlicherseits vom Kampf gegen das Patriarchat die Rede war. Gerade aber aus dem sozialen und intellektuellen Milieu der „alten“ Bundesrepublik, das, von Grünen und SPD enttäuscht, konsequent feministische, radikal-ökologische und pazifistische Projekte verficht, muß die PDS die 1 Million Stimmen gewinnen, die ihr, ein durchschnittliches Ergebnis in den neuen Bundesländern unterstellt, für den Einzug in den Bundestag fehlen. Vor einem vergleichbaren Dilemma stehen Lothar Bisky und Gregor Gysi auch in der „Geschichtsdebatte“. Einerseits muß das realsozialistische Partei- und Gesellschaftsmodell verworfen werden – das fordern die linken Wessis und nicht wenige der neuen Parteimitglieder im Osten. Andererseits gilt es, die individuellen Biographien der SED-Mitglieder nicht zu negieren und dem „Stalinismus als Lebensweise“ mit Verständnis zu begegnen. Kontinuität und Bruch – ein oft versuchtes und stets gescheitertes Experiment.

Wenn dem Vorstand der PDS eins klar ist, dann „der Fakt“, daß er mit Hilfe von Parteibündnissen, möglichst noch mit marxistisch-leninistischen Parteiruinen, nicht zum Ziel kommen wird. Aber die jetzt gefundene Lösung, prominente Persönichkeiten der Linken für eine Kandidatur auf der offenen Liste der PDS zu gewinnen, steht und fällt mit den Namen und dem, wofür sie stehen. Jutta Ditfurth? Uta Ranke- Heinemann? Dann lieber doch auf Nummer Sicher und drei Direktwahlkreise in (Ost)Berlin. Christian Semler