: Diät mal wieder für die Falschen
■ Bonner Koalitionäre legen neue Sparpläne für 1994 ff. vor: leider keine Überraschungen
Bonn/Berlin (taz/dpa) – Die Bonner Koalitionäre wollen vom nächsten Jahr an den Gürtel deutlich enger schnallen – allerdings nicht an ihren eigenen Wohlstandsbäuchen. In gewohnter sozialer Ausgewogenheit beschlossen die Koalitionsspitzen in der Nacht zum Dienstag, daß 14 des insgesamt rund 21 Milliarden Mark Volumen umfassenden Sparpakets von Arbeitslosen und SozialhilfempfängerInnen aufgebracht werden sollen.
Die Pläne sehen vor, daß Arbeitslosenhilfe und Kurzarbeitergeld linear um drei Prozent gekürzt werden. Außerdem soll die maximale Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzt werden. Der Arbeitslosenbeitrag der Arbeitnehmer bleibt aber zum Ausgleich genauso hoch wie bisher. Außerdem auf dem Diät-Plan: Kürzungen des Kindergelds zum Wohle der Familien und Einsparungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Freude der Langzeitarbeitslosen. Die Studentenschaft darf eingefrorene BAföG-Zahlungen für 1994 und 1995 begrüßen. Die Beamten werden sich über das Einfrieren ihrer Bezüge im nächsten Jahr begeistern. Aussiedler werden über die zeitliche Verkürzung ihrer Eingliederungshilfen von fünfzehn auf nur noch sechs Monate angetan sein. Sparsame Bundesdeutsche erwartet die Abschaffung der Arbeitnehmersparzulage. Und schließlich soll die Agrarsozialreform bis zum 1. Januar 1995 verschoben werden.
Beim Arbeitslosengeld werden ab 1994 im ersten Quartal weiterhin für Familien mit Kindern 68 Prozent und für Ledige 63 Prozent des letzten Nettoentgelts gezahlt. Wehe jedoch denjenigen, die nicht ganz schnell wieder einen Job finden: Im zweiten Quartal reduziert sich das Arbeitslosengeld auf 67 bzw. 62 Prozent, im dritten auf 66 bzw. 61, im vierten auf 65 bzw. 60 und in der Restlaufzeit bis zum 32. Monat um insgesamt vier Prozentpunkte auf 64 bzw. 59 Prozent. Das Schlechtwettergeld für Bauarbeiter wird im ersten Halbjahr 1994 um drei Prozentpunkte gekürzt und ab 1. Juli 1994 ganz gestrichen.
Beim Kindergeld sind folgene soziale Wohltaten vorgesehen: Für dritte und weitere Kinder soll das Mindestkindergeld von 140 Mark – bei Bruttojahreseinkommen ab 120.000 Mark für Ledige und 150.000 Mark für Verheiratete – auf 70 Mark halbiert werden. Außerdem sollen eigene Kindereinkünfte bei der Berechnung des Kindergeldes berücksichtigt werden. Ausländer sollen Kindergeld nur noch dann erhalten, wenn sie über eine Aufenthaltsberechtigung verfügen.
Insgesamt umfaßt die Sparliste 49 Punkte. Die Einsparungen bei Bund, Ländern, der Bundesanstalt für Arbeit und den Gemeinden sollen 1994 zusammen 25,3 Milliarden Mark ausmachen. 1995 sind dann 32,7 und 1996 34,6 Milliarden Mark Sparvolumen vorgesehen. Außerhalb des Sozialbereichs sind unter anderem Einsparungen bei der Kokskohlenbeihilfe geplant. Die Wettbewerbshilfe für Werften soll gestrichen, die Effizienz von Betriebsprüfungen erhöht werden. 500 Millionen Mark und mehr erhoffen sich Waigel und Konsorten durch wirksame Maßnahmen gegen den Zigarettenschmuggel. Die Minister wollen angeblich an ihrer eigenen Besoldung sparen (durch Verzicht auf Erhöhung), teilen aber die Höhe dieser Einsparungen bisher nicht mit. Zum Thema Berlin-Umzug der Regierung ist bislang nur nebulös von einer „zeitlichen Streckung teurer Bundesbauten“ die Rede.
Bundesfinanzminister Theo Waigel sprach gestern vor der CDU/CSU-Fraktionssitzung von einem „guten Paket“. Der Minister: „Ich kann nur da sparen, wo Geld ausgegeben wird.“ Die Sozialhilfe sei in den vergangenen zehn Jahren um 60 Prozent angestiegen, die Einkommen aber nur um 40 Prozent. Wenn die Sozialhilfe also auf dem Niveau von vor vier Jahren eingefroren werde, könne keine Rede davon sein, daß Deutschland ein „sozial kalter Staat“ werde. Waigel unterstrich: „Es trifft alle.“ Arbeitsminister Norbert Blüm sagte zu den Sozialkürzungen: „Bittere Pille ja, Niederlage nein.“ Wirtschaftsminister Günter Rexrodt nannte die Kürzungen „sozial ausgewogen“. FDP-Chef Klaus Kinkel sagte, er gehe davon aus, daß die FDP-Parlamentarier dem Sparpaket zustimmen.
Dagegen kritisierte der Arbeitnehmerflügel der Union die Sparbeschlüsse. Der CDU-Abgeordnete Heribert Scharrenbroich betonte, er erwarte ein ausgeglicheneres Konzept. Die Einschnitte bei der Arbeitslosenunterstützung könnten so nicht hingenommen werden.
Die SPD lehnte das Sparpaket grundsätzlich ab. SPD-Präsidiumsmitglied Rudolf Dreßler nannte die Kürzungspläne einen Versuch, „die von der Regierung selbst verschuldete Finanzmisere auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beheben“. Ausgerechnet in der Rezession und mitten in einer Beschäftigungskrise solle der Sozialstaat den Sicherheitsgurt abstreifen, bemängelte Dreßler die Kürzungen. Schlechtwettergeld und anderes seien „Eckpfeiler der sozialen Ordnung und unentbehrliche Stützen für Konjunktur und Nachfrage“.
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