■ Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit der taz / Für eine erleichterte Einbürgerung von Ausländern / FDP muß liberale Fortschrittspartei sein / „Ich bin ein Befürworter der ökologischen Marktwirtschaft“ / Absage an Koalitionsspekulationen
: „Wir leben in einer Bürgergesellschaft“

taz: Herr Genscher, Sie sind im letzten Jahr nach 23 Jahren der Regierungszugehörigkeit zurückgetreten. Ihre Partei ist inzwischen 24 Jahre an der Regierung in Bonn. Braucht die FDP vielleicht auch einmal eine schöpferische Pause?

Hans-Dietrich Genscher: Eine Partei, die sehr lange an der Regierung ist, muß permanent den Prozeß der inneren Erneuerung betreiben. Man muß deshalb nicht in die Opposition gehen. Aber man wird vom Wähler in die Opposition geschickt, wenn man nicht in der Lage ist, neue Fragen zu beantworten. Der FDP ist diese innere Erneuerung bisher gut gelungen. Anders ist nicht zu erklären, daß sie bereits so lange Regierungsverantwortung trägt.

Viele FDP-Mitglieder haben Zweifel, ob der FDP dies noch gelingt und ob sie sich in der Koalition mit der Union nicht zu sehr anpaßt.

Ich habe nicht diesen Eindruck. Unsere Wettbewerber haben im Moment eher Probleme als wir. Man kann durchaus sagen, daß die FDP im Wind liegt.

Wirklich? Der Asylkompromiß ist gerade beschlossen und tritt heute in Kraft. Jetzt kommt das Thema der Organisierten Kriminalität und der Inneren Sicherheit in den nächsten Bundestagswahlkampf. Ist das ein Umfeld, das dem liberalen Geist zuträglich ist?

Wenn die FDP sich als liberale Fortschrittspartei begreift, ist es ihr zuträglich. Die FDP war immer stark, wenn sie sich gegen eine Politik der Angstmacherei gewandt hat, etwa in den historischen Auseinandersetzungen in der Außenpolitik. Innenpolitisch ist der FDP dies immer dann gelungen, wenn sie als Partei des freiheitlichen Rechtsstaates aufgetreten ist und nicht als Partei eines rechten Staates.

Was heißt denn liberaler Fortschritt? In der Inneren Sicherheit ist die FDP hinreichend damit beschäftigt, Forderungen wie den der Unionsparteien nach dem Großen Lauschangriff abzuwehren. Das sieht eher danach aus, als befinde sich die FDP in der Defensive.

Das Nein zum Lauschangriff war notwendig. Man darf nicht Mittel zulassen, die erstens untauglich sind und zweitens die Werte des freiheitlichen Rechtsstaates gefährden. Wie groß das Freiheitsverlangen der Menschen ist, hat ja die Entwicklung in Ostdeutschland und Osteuropa gezeigt. Das ist kein Freiheitsverlangen, das sich in krassem Egoismus entlädt. Die Lichterketten kann man gar nicht hoch genug bewerten. Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf Ausländerfeindlichkeit zeigt, daß die Menschen Freiheit und Verantwortung wollen. Gerade diese Zeit ist die Zeit der Liberalen. Der Parteitag in Münster hat gezeigt, daß die FDP das sehr wohl erkennt. Wir haben überdies mit Sabine Leutheusser- Schnarrenberger eine ausgezeichnete Justizministerin, die Garant einer liberalen Rechtspolitik ist.

Kürzlich meinten Sie, Herr Genscher, die Lichterketten seien ein Beispiel, wie die Bürger anstelle der Parteien gehandelt hätten. Das läßt sich doch auch als Kritik an den vorhandenen Parteien verstehen – die FDP inklusive.

Ja. Die Lichterketten waren deshalb so wichtig, weil sie zeigen, daß wir in einer Bürgergesellschaft leben, in der die Bürger selbst etwas tun: nicht in Massenaufmärschen, nicht gerufen, nicht von Großorganisationen irgendwo hingeschickt, sondern jeder in eigener Verantwortung. Die Parteien müssen sich öffnen für das, was sich da äußert. Sie müssen sehr viel stärker in das hineinhören, was Bürger denken und sagen, und nicht nur in das, was sie angeblich denken und sagen.

Ist das ein Plädoyer für Plebiszite im Grundgesetz und für Mitgliederbefragungen auch in der FDP?

Die Mitgliederrechte sind in der FDP heute schon stärker gewahrt als in anderen Parteien. Bei uns zum Beispiel werden die Kandidaten in den Wahlkreisen von den Mitgliedern, nicht von Delegierten aufgestellt. Für mehr plebiszitäre Elemente in der Verfassung bin ich offen.

Die rechtsradikale Gewalt und die Suche nach ihren Ursachen hat für die Union die Frage nach der Konfliktpädagogik aufgeworfen. Welche Frage sollte sich die FDP stellen?

Entscheidend ist, daß Deutschland sich seit Beginn der sechziger Jahre wie ein klassisches Einwanderungsland verhalten hat. Man hat Menschen mit ihren Familien nach Deutschland geholt, und zwar unbefristet. Das heißt: Diese Menschen schlagen hier Wurzeln. Hier werden Kinder geboren, die sich hier mehr zu Hause fühlen als am Herkunftsort ihrer Eltern. Diesen Menschen müssen wir die Möglichkeit geben, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft halte ich allerdings eher für Schattenboxen. Das ist kein Rechtsbegriff, der dem deutschen Recht bisher unbekannt ist. Mit der Einbürgerung hingegen wird auch ein Ausgrenzungsmerkmal beseitigt. Das ist eine dringend notwendige Konsequenz. Das Aufschieben dieser Konsequenz hat sehr viel dazu beigetragen, daß sich Emotionen gegen Ausländer entwickeln konnten und angestachelt werden konnten.

Wer bisher aufschiebt, sind große Teile der Union, etwa Bundesinnenminister Rudolf Seiters.

Der Bundeskanzler scheint für eine doppelte Staatsbürgerschaft offen zu sein. Jedenfalls halte ich es für notwendig, daß wir die Entscheidung schnell treffen. Die schlimmste Reaktion ist, zu sagen, man müsse dies oder jenes tun, um den Rechtsradikalen die Argumente zu nehmen. Man muß nicht den Rechtsradikalen die Argumente nehmen, sondern ihren Opfern die Angst. Andernfalls würde man sich zu ihren Vollstreckern machen. Wir müssen uns aber als ihre Gegner verstehen.

Muß die FDP sich vor dem Wahljahr 1994 nicht sehr deutlich vom Koalitionspartner CDU/ CSU absetzen, wenn sie wirklich glaubhaft machen will, daß sie für vernünftige, rationale Politik antritt?

Wenn man als Mitglied einer Regierungskoalition Wahlkampf führt, wird man immer zunächst das darstellen, was man als Koalition gemeinsam erreicht hat. Außerdem das, was man erreichen wollte, aber nicht erreichen konnte, weil der Koalitionspartner es anders wollte. Und schließlich das, was man in der nächsten Legislaturperiode durchsetzen will. Koalitionen entstehen, weil niemand allein die Mehrheit hat. Das ist gut so. Ich bin gegen absolute Mehrheiten. Ich wäre auch gegen eine absolute Mehrheit der FDP ...

Wie bescheiden!

Die Gefahr ist nicht so akut, das gebe ich zu.

Herr Genscher, ist der FDP nicht durch die Fusion der Grünen mit dem Bündnis 90 eine stärkere Konkurrenz erwachsen – gerade auf den Themenfeldern innere Liberalität und natürlich Ökologie?

Ich habe nie zu denen gehört, die die Grünen für eine Eintagsfliege gehalten haben. Das ist eine Partei, wenn sie denn Partei sein will, die länger Bestand haben wird. Ihre Existenz ist auch ein Aufruf an die FDP, ihr rechtsstaatliches Profil zu schärfen. Genauso müssen wir den Schutz der zentralen Lebensgrundlagen wieder zu einem zentralen Thema unserer Politik machen. Ich sage bewußt „wieder“. 1971 war ich selbst der erste Innenminister der Republik, der ein Umweltprogramm vorgelegt hat. Breites Gehör bekam ich nicht, weil das Problembewußtsein erst entstehen mußte. Ich bin ein Befürworter einer ökologischen Marktwirtschaft. Es ist eine Irrlehre, daß Umweltschutz Arbeitsplätze bedroht. Im Gegenteil: Die Volkswirtschaft, die sich als erste auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen umstellt, wird die Märkte von morgen gewinnen. Umweltschutz ist für mich darüber hinaus eine fundamentale Freiheitsfrage. Liberale Politik heißt ja, Lebenschancen zu vergrößern und nicht einzuengen. Wer Umweltschutz vernachlässigt, verkleinert die Lebens- und Freiheitschancen künftiger Generationen.

In Ihrer Partei hat sich vor kurzem ein Kreis von Ökoliberalen gegründet – weil die FDP dieses Thema bisher sträflich vernachlässigt hat.

Vernachlässigt würde ich nicht sagen. Aber ich würde mir wünschen, daß die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie von der FDP in besonderer Weise betrieben wird. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben unseren Staat als freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat definiert. Wenn sie damals die Einsichten gehabt hätten, die wir heute haben, hätten sie ohne Zweifel auch den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zur Aufgabe allen staatlichen Handelns erklärt. CDU und CSU kann der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie die grundgesetzliche Verankerung dieses Zieles bis heute verhindert haben. Ich halte das für einen unerträglichen Zustand.

Würden sich die Freidemokraten der ökologischen Marktwirtschaft verschreiben, müßten sie sich auch mit Interessengruppen anlegen, die ihr relativ nahe stehen – etwa mit Industriebranchen, die dann Öko-Steuern bezahlen müssen.

Wer etwas Neues durchsetzen will, muß mit Widerständen rechnen. Denken Sie an unsere Ostpolitik. Anfangs hatten wir eine ziemlich knappe Mehrheit. Später haben sich auch diejenigen auf den Zug gesetzt, die vorher dagegen waren.

Ist die amtierende Regierungskoalition noch innovativ genug, um diese Themen anzugehen? Ist nicht doch die Zeit für einen Wechsel bei der Bundesregierung gekommen?

Mir geht es darum, daß die FDP innovativ ist. Nur als innovative Partei können wir die nächste Wahl erfolgreich bestehen. Daraus ergeben sich unsere Möglichkeiten. Ich halte nichts von diesem ganzen Koalitionsgerede.

Also möchten Sie jetzt keine Koalitionsaussage zugunsten der Union machen?

Wie wir uns dazu stellen, werden wir im nächsten Jahr entscheiden.

Vor einem Jahr ließen Sie sich mit der Aussage zitieren, Sie würden eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen nicht ausschließen. Gilt das noch?

Ich halte nichts von Spekulationen. Wir haben eine Koalition, die wichtige Aufgaben zu erledigen hat und die dabei auch gut vorankommt. Daß sich die Sozialdemokraten gegenwärtig durch ein hohes Maß an Attraktivität auszeichnen, kann man wirklich nicht sagen. Man weiß bei der SPD in der Sache in wichtigen Fragen nicht, woran man ist.

Die FDP hat sich auf ihrem letzten Parteitag in Münster mit Klaus Kinkel einen neuen Vorsitzenden gewählt, der die Familie als Keimzelle der Gesellschaft gelobt hat und erneut für einen ehrlichen Patriotismus plädiert hat. Klingt das nicht eher konservativ als liberal?

Keineswegs. Er hat sich auf die Grundwerte der Verfassung berufen. Ich bin auch für einen Verfassungspatriotismus. Ein liberaler Verfassungspatriotismus ist in dieser Zeit besonders wichtig.

Stichwort Verfassungspatriotismus: Was schadet dem deutschen Ansehen im Ausland eigentlich mehr, die Weigerung, an Kampfeinsätzen out of area teilzunehmen, oder die rechtsradikale Terrorwelle?

Die rechtsradikale Gewalt richtet großen Schaden für unser Ansehen in der Welt an. In der anderen Frage weiß die Welt, daß die Bundesregierung sich um eine Änderung der Verfassung bemüht. In der SPD sind ja dafür durchaus aussichtsreiche Entwicklungen sichtbar. Man muß sehen, wie weit wir kommen, bis das Bundesverfassungsgericht in der Sache entscheiden wird. Das Gespräch führten Tissy Bruns

und Hans-Martin Tillack in Bonn