Bezirksamt räumt Großfamilie

■ Zehnköpfige Familie wird vom Bezirksamt Zehlendorf wegen Mietschulden aus bezirkseigenem Haus geräumt / Familie will unter einem Dach zusammenleben

Seit zwölf Jahren bewohnt die Familie G. ein Haus in einem Dahlemer Villenviertel, das der zehnköpfigen Familie seinerzeit vom Bezirksamt Zehlendorf zugesprochen wurde. Dasselbe Bezirksamt schickt ihr heute den Gerichtsvollzieher ins Haus. Wegen Mietrückständen von fast 60.000 Mark wurde gegen die Familie im Oktober letzten Jahres vor Gericht ein Räumungstitel durchgesetzt, heute ist es soweit. Obwohl die Familie seit März dank einer ABM-Stelle des Vaters wieder die Miete zahlt und eine ausstehende Wohngeldnachzahlung einen Teil der Schulden abtragen wird, bleibt das Bezirksamt hart. „Der zuständige Dezernent hat die Sache entschieden, und er trifft in der Regel keine neue Sachentscheidungen“, kommentiert Bezirksbürgermeister Ulrich Menzel (CDU).

Sozialstadtrat Eberhard Schmidt (CDU) findet die Vorgehensweise des Bezirksamtes sogar sozial. „Kein privater Vermieter hätte sich Mietrückstände in dieser Höhe bieten lassen.“ Das Bezirksamt räume die Familie schließlich nicht auf die Straße, sondern stelle ihr zwei Wohnungen mit fünf und zwei Zimmern zur Verfügung, die zusammen nicht halb soviel an Miete kosteten.

Die Schwierigkeiten begannen, als Albrecht G. im März 1990 der Mietvertrag für sein Fachgeschäft für Baubiologie in Charlottenburg wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde. Trotz provisorischen Weiterverkaufs war er bald nicht mehr in der Lage, seine Miete zu bezahlen. Obwohl sein Jahreseinkommen von 24.000 Mark 1991 auf 9.000 im Jahr 1991 sank, wurde sein Antrag auf Sozialhilfe abschlägig beschieden. Als Selbständiger stehe er dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, hieß es. Auch die Wohngeldanträge, die er erst im April 1991, dann im Januar 1992 stellte, wurden abgelehnt. Die Familie konnte die laufenden Mietzahlungen nicht nachweisen, da sie sie ja bereits nicht bezahlen konnten. „Für den Gesetzgeber besteht dann der Verdacht, daß das Wohngeld nicht für die Miete verwendet wird“, so Wohnungsstadtrat Klaus Eichstätt (CDU). G. legte dagegen Widerspruch ein und unterschrieb eine Abtretungserklärung, nach der das Wohnungsamt das Geld direkt an das vermietende Grundstücksamt zahlt. „Es läuft also plötzlich“, sagt Albrecht G. – jetzt, wo der Räumungstermin ansteht.

Angesichts der Räumung ist die Familie fassungslos. Die älteste Tochter, die 22jährige Germanistikstudentin Friedma, will nicht nur weiter mit ihrer Familie zusammenwohnen, auch an dem Haus hängt sie. „Wir haben hier soviel renoviert, Wände angemalt, Parkette abgezogen, Dielen gelegt.“ Auch die jüngere Imke will bleiben. „Hier hat man bei Konflikten die Möglichkeit, sich zurückzuziehen.“ In der neuen Wohnung würde es sicher Beschwerden regnen, da alle Geschwister Musikinstrumente spielen und viel Besuch bekämen. „Wir würden uns auch weiter einschränken“, sagt Mutter Ilse G. Jetzt schon fährt die Familie kein Auto, war seit 1981 nicht im Urlaub, baut Tomaten, Erbeeren und Kräuter im Garten an, näht viel selbst und heizt wenig. Das gesamte Brot wird aus selbstgemahlenem Mehl gebacken, Marmelade aus Werder-Fallobst gekocht. Dafür ist in den neuen Wohnungen kein Platz mehr. „Noch nicht einmal die große Getreidemühle wird in den drei Zimmern und zwei Kammern Platz haben, mehr ist das nämlich nicht“, so Ilse G.

Wenn der Gerichtsvollzieher heute räumt, müssen nicht nur die Eltern mit den acht Kindern gehen. Der Bio-Bauer, der jedes Wochenende übernachtet, wenn er seine Produkte in Berlin verkauft, muß sich eine neue Bleibe suchen. Der anderthalbjährige Alexander, Sohn einer Nachbarin, wird eine neue Tagesmutter brauchen, und die zahlreichen Kinder aus der Nachbarschaft haben einen Spielplatz weniger. „Das war immer ein offenes Haus“, erinnert sich die 20jährige Valeska von gegenüber. Im Garten habe man Fangen und Völkerball gespielt, und auf der Terrasse Märchen aufgeführt.

Als sich die Familie vergangene Woche an eine Rechtsanwältin wandte, war es zu spät. „Ich bin überzeugt, daß man die Räumungsklage hätte verhindern können“, sagt Rechtsanwältin Barbara Fetten. Die Trennung der Familie sei mit dem im Grundgesetz verankerten Schutz der Familie nicht zu vereinbaren. „Ein privater Vermieter wird auf dieses Grundrecht keine Rücksicht nehmen, aber hier vermietet das Land Berlin.“ Der Staat wolle schließlich einmal von diesen Kindern in Form von Steuern und Arbeitskraft profitieren.

Die von der Anwältin gegen den nun rechtskräftigen Räumungstitel beantragte einstweilige Verfügung wurde abgelehnt. Jetzt hofft sie auf einen peniblen Gerichtsvollzieher: Im Räumungstitel, in dem alle zu räumenden Personen aufgeführt werden müssen, stehen nur die Namen der Eltern. „Korrekterweise dürfte der Gerichtsvollzieher nur die beiden räumen, und das Bezirksamt müßte gegen die Kinder eine eigene Klage führen.“ Corinna Raupach