■ Press-Schlag: Genie vs. Streber
Wimbledon, Centre Court: Ein Mann reckt den Arm in die Höhe. Die typische Siegerpose? Hinter der bloßen Geste steckt mehr. Viel mehr. Boris Becker hat Michael Stich geschlagen. Und steht damit nicht nur im Halbfinale. Er hat sich selbst aus einem Tal der Tränen befreit. 7:5, 6:7, 6:7, 6:2, 6:4. Und die Tennis-Welt weiß: Boris ist wieder da. Daily Mirror: „König Boris verteilte Stiche und schaffte ein sensationelles Comeback.“
Nicht nur das. Boris Becker hat Michael Stich geschlagen. In einem Viertelfinale, das eigentlich ein Endspiel war. Becker hat sich revanchiert. Für die Schmach der Niederlage vor zwei Jahren. Ein Nervenkrimi. Die Hochspannung auf dem Centre Court war übers Fernsehgerät spürbar. Es knisterte. Becker gegen Stich. Zwei Raubtiere auf der Jagd. Der eine lauerte auf den Fehler des anderen. Verbissen, konzentriert. In diesem siebten Aufeinandertreffen der besten deutschen Tennisspieler stand zuviel auf dem Spiel, als daß einer die Beute leichtfertig hergegeben hätte. Wieviel, das läßt sich an Beckers Erleichterung nach dem Psychothriller erahnen: „Ich habe solch ein Spiel gebraucht. Mir fällt ein Stein vom Herzen!“
Im Match selbst ließ sich der Leimener keinerlei Gefühl anmerken. Kein Mienenspiel. Höchstens, ganz, ganz sparsam dosiert, die geballte Faust. Anders Michael Stich. Der kühle Schwarze aus dem hohen Norden jubilierte nach dem dritten Satz, als ob er das Match schon in der Tasche hätte. Zweimal Tie-Break, zweimal Satzgewinn für den Wimbledon- Gewinner von 1991. In der Loge klatschte Jessica, die Gemahlin, als wollte sie der Welt zeigen, daß der Gatte der bessere Tennisspieler sei. Doch Familie Stich hat die Rechnung ohne den dreimaligen Wimbledon-Gewinner gemacht. In seinem Wohnzimmer läßt sich ein Becker von Stich nur einmal die Butter vom Brot nehmen.
Man kann nun nicht gerade behaupten, daß Michael Stich der schlechtere Spieler gewesen war. Beileibe nicht. Die beiden Raubtiere, beide auf dem Rasen zu Hause, boten Weltklasse-Tennis. Die Filzkugel bekam Frust, Lust, Enttäuschung und vor allem unbändigen Siegeswillen ab. In den Aufschlägen von über 200 km/h steckte der gesamte Gefühlshaushalt. Becker spielte das Spiel seines Lebens. „Es war mein bestes Spiel, das ich je in Wimbledon gespielt habe.“ Becker gegen Stich, das Duell, das die englische Presse, martialisch wie üblich, als „Schlacht der deutschen Titanen“ apostrophierte, lädt zur Schwarz- Blond-Malerei ein: Hafenstraßen-Boris gegen Michael, mit seinen neuesten Thesen über Rechtsradikalismus. Ohne jegliche Ideologisierung bleibt die schlichte Erkenntnis: Boris Becker gegen Michael Stich, das ist Genie versus Streber. coh
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