■ Maastricht und das Bundesverfassungsgericht
: Die Chance des Bundestages

Gegenwärtig verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die deutsche Zustimmung zum Maastrichter Vertrag. Vor den Karlsruher RichterInnen des Zweiten Senats erscheinen als KlägerInnen vier grüne Europaabgeordnete und der nationalliberale FDP-Politiker Manfred Brunner. Beide Klagen halten die deutsche Zustimmung zur geplanten europäischen Union für verfassungswidrig, weil sie gegen unveränderbare „Ewigkeitswerte“ des Grundgesetzes (Art. 79 III GG) verstoße. Angegriffen wird neben dem Demokratiedefizit der Maastricht- EG die übermäßige Relativierung der deutschen Staatlichkeit.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun mehrere Möglichkeiten, das Verfahren zu Ende zu bringen. So könnte es die Beschwerden ablehnen, weil die Beeinträchtigungen von Demokratie und Staatlichkeit nicht so eindeutig sind, wie in den Schriftsätzen der Kläger behauptet. Es kann die Eingaben aber auch nach der mündlichen Verhandlung noch für unzulässig erklären. Damit hatten ursprünglich ohnehin viele BeobachterInnen gerechnet. Denn der Schwerpunkt aller Eingaben liegt auf staatsorganisatorischen Fragen, die mit der individuellen Verfassungsbeschwerde nur über juristische Winkelzüge thematisiert werden können. Aber selbst, wenn es die Klagen für unzulässig oder unbegründet erklärt, können im Urteil noch inhaltliche Pflöcke für zukünftige Integrationsschritte eingeschlagen werden.

Karlsruhe könnte den Verfassungsbeschwerden allerdings auch stattgeben. Nach dem Willen vieler Maastricht-GegnerInnen müßte dann ein Volksentscheid über den deutschen Beitritt zur Europäischen Union durchgeführt werden. Ihr Argument: Die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes (Art. 79 III GG) kann nur durch das Volk als verfassunggebende Gewalt durchbrochen werden. Dieser Hoffnung liegt jedoch ein Mißverständnis zugrunde. Für die Verfassungsüberwindung sieht das Grundgesetz gerade keine Regeln vor, die nun eingeklagt werden können. So ist es alleine eine Frage der Opportunität, wie die Legitimation einer „neuen“ Verfassung gewonnen wird. Statt eines Plebiszits könnte durchaus auch eine verfassunggebende Versammlung für ausreichend gehalten werden. Es ist auch nicht unbedingt Aufgabe der Karlsruher VerfassungshüterInnen, Wege zur Überwindung dieser Verfassung zu weisen.

Beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht deshalb auf die Aussage, daß Maastricht verfassungswidrig ist, ohne eine Verfassungsdurchbrechung zu sanktionieren, stünde die Europäische Union kurz vor dem Ziel noch einmal zur völligen Disposition. Denn die Vereinbarung von Ausnahmen für einen einzelnen Mitgliedsstaat erfordert die Zustimmung aller EG-Partner. So machten die EG- Regierungschefs im Dezember 92 den DänInnen einige Zugeständnisse, um die Chancen bei der zweiten Volksabstimmung zu verbessern. Größere Korrekturen im Sinne eines „Nachverhandelns“ sind auf diesem Wege jedoch nicht möglich. Denn substantielle Änderungen am Vertrag erfordern eine Wiederholung der zwölf nationalen Zustimmungsprozeduren – mehrere Volksentscheide eingeschlossen. Das Verfassungsgericht wird um den Scherbenhaufen wissen, den es auf diesem Wege anrichten könnte.

Den Karlsruher RichterInnen steht aber ein cleverer Ausweg aus diesem Dilemma offen. Sie könnten der Bundesrepublik als Bedingung für ein „Ja“ zu Maastricht aufgeben, selbst etwas gegen das Demokratiedefizit der EG zu tun. Schließlich ist die schwache Position des Europäischen Parlaments nur die eine Seite des exekutiven Übergewichts der EG. Die andere Seite, die mangelhafte Kontrollmöglichkeit der nationalen Parlamente gegenüber den EG-Aktivitäten ihrer Regierungen, ist hausgemacht. Sie beruht in der BRD auf dem staatsrechtlichen Dogma, daß die Außenpolitik allein Sache der Regierung sei.

Ist aber die EG-Politik so einfach zur Außenpolitik zu zählen? Wohl kaum. Schon der besondere Charakter des EG-Rechts verbietet dies. EG-Verordnungen gelten– anders als „normales“ Völkerrecht – unmittelbar für die BundesbürgerInnen. EG-Recht hat auch grundsätzlich Vorrang vor bundesdeutschem Recht. Selbst eine Durchführungsverordnung zur Regelung des EG-Agrarmarkts steht über dem deutschen Grundgesetz. Viele sprechen daher bereits von einer „europäischen Innenpolitik“. Anders als die allgemeine „Auswärtige Gewalt“, die bei der Bundesregierung liegt, müßte deshalb die „EG-wärtige Gewalt“ vor allem beim Bundestag liegen. Denn Gesetzgebung (also auch die Mitwirkung an EG- Gesetzgebung) ist Sache des Parlaments, nicht der Regierung.

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Der Bundestag hat sich bezüglich Europa ein ums andere Mal an den Katzentisch setzen lassen. Bei Abschluß der Römischen Verträge 1957 ließ er sich mit einer bloßen Informationspflicht der Regierung abspeisen. Meist waren die Vorhaben in Brüssel aber schon beschlossen, wenn sich der Bundestag mit ihnen beschäftigen konnte. Im Zuge der Maastricht- Debatte haben die Bonner Abgeordneten ein „Mitwirkungsrecht“ ausgehandelt. Danach müssen die Stellungnahmen des Bundestages „berücksichtigt“ werden. Die Länder waren beim Verfassungspoker um die deutsche Maastricht-Zustimmung erfolgreicher. Stellungnahmen des Bundesrats sind – wenn Länderinteressen besonders betroffen sind – „maßgeblich zu berücksichtigen“, das heißt, in der Regel zu befolgen. Auch innerstaatlich wurde also vor allem die Exekutive gestärkt, denn im Bundesrat sitzen die Landesregierungen, während die Landtage nichts zu sagen haben.

Das alles war kein europäischer Sachzwang, sondern bundesdeutsche Verfassungspolitik. Das Verfassungsgericht könnte diese schleichende Entdemokratisierung nun unter Hinweis auf das ebenfalls unabänderliche Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 II GG) umdrehen. Die Karlsruher RichterInnen könnten dem Bundestag in wesentlichen EG-Fragen ein Weisungsrecht gegenüber der Regierung einräumen. Dann müßte sich der Bundestag endlich verantwortlich um die Europapolitik der bundesdeutschen Ministerien kümmern. Die Vorgänge in Brüssel würden für die bundesdeutsche Öffentlichkeit durchschaubarer. Gerade soziale Bewegungen, die im Brüsseler LobbyistInnenheer schwach vertreten sind, könnten besser Einfluß nehmen. Und der Regierung wäre es hin und wieder verwehrt, in Brüssel ganz anders zu stimmen, als sie zu Hause angekündigt hat.

Ein voll verantwortliches Europäisches Parlament wird es wohl so schnell nicht geben. Auch das deutsche Verfassungsgericht kann es nicht herbeizaubern. Mit der längst fälligen Aufwertung des Bundestages wäre ein Zeichen gesetzt, daß sich Europa und Demokratie nicht ausschließen müssen. Peinlich genug, daß sich der Bundestag nicht selbst für diesen Weg einsetzt. Christian Rath

Der Autor ist Jurist, lebt in Freiburg und ist Sprecher des Bundesarbeitskreises kritischer Juragruppen.