Bilanz des Herrn über 180 Kilometer Akten

■ Joachim Gauck spricht sich gegen eine Amnestie für Stasi-Mitarbeiter aus

Bonn (taz) – Ein sichtlich zufriedener Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, präsentierte gestern in Bonn die Früchte seiner bisherigen Arbeit. Gauck lobte in einem „Ersten Tätigkeitsbericht“ insbesondere das Stasi- Unterlagen-Gesetz. Dieses habe sich „bewährt“ und sei „trotz vereinzelter Kritik und bürokratischer Erschwernisse“ auch „vom einzelnen Bürger angenommen worden“. Gauck warnte indessen vor einer vorschnellen Beendigung der kontrovers geführten Diskussion „über Haltungen und Tatbestände, die zu Zeiten der Diktatur das gesellschaftliche und private Leben geprägt haben“. Die dem Thema angemessene Streitkultur sei wünschenswert, schaffe Klarheit und diene letztlich dem Ziel, „wirklichen inneren Frieden im vereinigten Deutschland herbeizuführen“, sagte Gauck.

Der Bundesbeauftragte wies ausdrücklich Forderungen nach einer Generalamnestie für ehemalige Stasi-Mitarbeiter zurück. Gauck bezeichnete es als einen „oberflächlichen und schnellen Friedensschluß“, wenn sich jetzt „das Establishment der Bundesrepublik mit den Arrivierten der ehemaligen DDR“ zu einer Amnestiedebatte zusammenfinden würde. Dafür sei der Zeitpunkt „verfrüht“, da bisher noch „zu wenig wahrgenommen wurde“, meinte Gauck. „Wir stehen erst am Anfang der Debatte über die Vergangenheit.“

Dennoch läßt Gaucks Tätigkeitsbericht große Zahlen nicht missen: So ergäben die vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zurückgelassenen Akten nebeneinandergestellt eine Strecke von fast 180 Kilometern, allein 80 Kilometer ständen davon im MfS- Zentralarchiv in Berlin. In der dortigen sogenannten Personenkartei „F 16“ habe man sechs Millionen Namen, davon etwa vier Millionen Ost- und zwei Millionen Westnamen, auf Karteikarten entdeckt. „Unvorstellbare Zahlen“, wie der Direktor der Gauck-Behörde, Hansjörg Geiger, kommentierte. Auch hätten die Bürger bislang die Möglichkeiten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes „weit über die anfänglichen Erwartungen hinaus genutzt“, betonte Geiger. Rund 1,8 Millionen Anträge seien in der Behörde eingegangen.

Indessen wird Gaucks Zufriedenheit „über das historisch wohl einmalige Experiment, die Akten eines Geheimdienstes vollständig offenzulegen“, von einigen angezweifelt. Gerüchte jedoch, wonach Stasi-Unterlagen aus dem Bundeskanzleramt oder aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz nicht vollständig in seine Behörde zurückgekehrt seien, dementierte Gauck: „Wir gehen davon aus, daß oberste Bundesbehörden das Stasi-Unterlagen-Gesetz beachten.“ Hasso Suliak