„Mehr durchgeknallt als besonders brutal“

■ In einem Brief, den wir hier dokumentieren, äußert sich Birgit Hogefeld, die am Sonntag in Bad Kleinen festgenommen wurde, zu den Umständen, die zum Tod Wolfgang Grams führten

„Wie's in mir aussieht: völlig zerrissen, aufgewühlt und unendlich traurig. Seit diesem Satz sind bestimmt wieder 10 Minuten vergangen – mir jagen 1000 Gedanken und viele Erinnerungen durch den Kopf, und ich muß immer wieder weinen. Jetzt ist es Dienstag, kurz nach 11.00 Uhr; vor 2 Tagen hat Wolfgang noch gelebt. Die Schüsse fielen am Sonntag, ca. 15.15 Uhr, mir wurde gesagt, daß er um 17.10 Uhr in einem Krankenhaus in Lübeck gestorben ist, ohne daß er noch mal bei Bewußtsein war. Kopfschuß.

Wolfgang und ich kannten uns seit 18 bis 19 Jahren und hatten seit 11 Jahren eine Liebesbeziehung. Nie vorher war ich mit einem anderen Menschen so eng zusammen, wir wußten alles voneinander und haben uns in vielem ohne viele Worte verstanden.

Ich bin gestern im BGS Hubschrauber von Wismar nach Karlsruhe gebracht worden, es war sehr schönes Wetter und weite Sicht – in der Ferne konnte ich Lübeck erkennen und habe mir vorgestellt, wie er da jetzt im Kühlfach liegt...

Heute nacht und auch jetzt sehe ich ihn ganz deutlich vor mir, sein Gesicht in allen Einzelheiten, seinen Körper, seinen Geruch, seine Stimme beim Reden und beim Singen – er hatte eine sehr schöne Tenor-Stimme –, und manchmal hat er Blues-Lieder improvisiert, das hat ihm großen Genuß gemacht.

Wenn wir in anderen Verhältnissen als den unmenschlichen in diesem Land geboren wären, dann hätte die Musik in seinem Leben mit Sicherheit eine sehr große Rolle gespielt. Ein Bild oder eine Erinnerung, die ich im Herzen bewahren werde, ist unsere letzte Begegnung auf diesem Bahnhof in Bad Kleinen. Ich war vor ihm da, und er kam kurz vor 14.00 Uhr dort an – ich habe ihn nicht gleich gesehen. Und dann sah ich ihn lachend und winkend auf mich zukommen, und wir haben uns lange umarmt.

Zu dem Ablauf von Wolfgangs Erschießung und meiner Verhaftung: Mir war vorher nichts Merkwürdiges aufgefallen. Ich kam dort kurz vor 13.00 Uhr an – aus Wismar –, was bekannt ist, weil bei mir ein Schließfachschlüssel gefunden wurde – Bahnhof Wismar, Rucksack mit Schreibmaschine drin, einigen Büchern, und – so das BKA – die Sachen sind dort vom BKA abgeholt worden.

Bad Kleinen ist ein kleines Dorf, und sonntags ist nur eine Kneipe offen – die am Bahnhof. Ich bin, bevor ich Wolfgang abgeholt habe, schon da gewesen, und wir sind dann zusammen da auch rein.

Als wir kurz nach 15.00 Uhr aus der Kneipe raus und durch die Unterführung Richtung Ausgang gegangen sind, springt mich nach wenigen Schritten ein Typ an. Ich schau in den Lauf seiner Pistole und liege auf der Erde. Ich werde dann von 2 — 3 Typen mit Waffen in Schach gehalten, und mir war klar, daß ich keine falsche Bewegung machen darf, wenn ich am Leben bleiben will. Gleichzeitig ist um mich rum ein totales Gerenne, und daß Wolfgang noch wegrennen konnte, habe ich nicht gesehen – das ist mir erst klar geworden, als ich die Schießerei, die oben auf dem nächsten Bahnsteig stattgefunden haben muß, gehört habe. Wolfgang ist also noch mindestens 20 Meter in der Unterführung und dann die ganze Treppe hochgerannt. Ich habe viele Schüsse gehört. Kurz darauf kam einer vom Greiftrupp eine Treppe runtergerannt und hat gerufen: „Er liegt da in seinem Blut auf dem Gleis.“ Wie er das sagte, war mir klar, daß er Wolfgang meinte. Die vom Greiftrupp kamen mir spätestens seit der Schießerei, aber eigentlich auch schon vorher bei dem Gerenne, total nervös und hektisch vor – einer z.B lief dann zu mir, hob meinen Kopf hoch und haute mir ins Gesicht; von der ganzen Art her kamen die mir mehr durchgeknallt als besonders brutal vor. Mir wurden die Hände auf den Rücken gefesselt – sie sind jetzt noch taub, geschwollen, eingeschnitten –, und eine schwarze Kapuze haben sie mehrere Runden mit Klebeband in Mund-Nasenhöhe festgeklebt, so daß ich sehr schlecht Luft gekriegt habe. Sie haben mich dann mit nem Auto nach Wismar ins Bullenpräsidium gebracht, auf dem Weg dorthin wurde die Kapuze nicht runtergemacht, aber so weit gelockert, daß ich durch den Mund atmen konnte. Auf der Fahrt dann haben sie mir dann eine Pistole abgenommen. In Wismar waren schon BKAler anwesend und haben mich sofort mit meinem richtigen Namen angesprochen. Ich habe den ganzen Sonntagabend x-mal gefragt, was mit Wolfgang ist und daß ich einen Rechtsanwalt oder meine Mutter verständigen will. Sie haben immer wieder gesagt, daß sie mir darüber keine Auskunft geben wollen und ich auch niemanden benachrichten darf; es käme einer von der BAW, der müsse entscheiden. Der von der BAW kam gegen Mitternacht und hat mir nach einigem Hin und Her gesagt, daß Wolfgang gestorben ist. Er wollte dann ein Gesprächsgeplänkel anfangen: sie hätten bei mir ein Kinderbild gefunden, und wer das denn sei – er hätte auch 3 Kinder... ich bin dann gegangen. Um 1.00 Uhr kamen sie wieder in die Zelle, ich sollte noch mal mit hochkommen. Ich: nein, ich will meine Ruhe haben. Sie dann: Aber ich könnte jetzt telefonieren. Ich konnte dann wirklich meine Mutter anrufen und mit ihr sprechen und war sehr froh, daß sie schon über Wolfgangs Tod und meine Verhaftung Bescheid wußte – das hat es mir leichter gemacht, schon weil ich viele Wörter nicht aussprechen mußte, die es mir verdammt schwer gemacht hätten, weiterzusprechen.

Und für sie war es auch besser, so war der Anruf nicht der Schock, sondern eine Erleichterung. Nach dem Telefonat hat der Bundesanwalt damit angefangen, daß mir wohl klar sei, daß es für mich keine Hoffnung gäbe, jemals wieder ein Leben in Freiheit zu führen, wenn ich nicht mit ihnen zusammenarbeite...

Es gibt zu den Ereignissen noch viel zu sagen

Ich hab gesagt, daß ich gehen will, und mach die Tür auf und seh gerade noch, daß sich da welche mit Kameras aufgebaut hatten, und verzerre mein Gesicht zur Grimasse. Als ich wieder in der Zelle war und mich hinlegen wollte, kommen sie wieder (gegen 2.00 Uhr): das ginge so nicht weiter, sie bräuchten endlich die Fotos, und wenn ich die nicht jetzt und hier machen lasse, dann schleppen sie mich zur ED-Behandlung, und sie könnten auch den Arzt rufen, der mir Beruhigungsmittel spritzt und dann kriegen sie die Fotos eben so. Ich: nee – sie sollen endlich abhauen und mich in Ruhe lassen. Sie haben mich dann zu viert an Händen und Füßen geschnappt und quer durch das Gebäude zur ED- Behandlung geschleppt. Fingerabdrücke habe ich machen lassen, weil ich endlich meine Ruhe haben wollte. Wegen der Fotos habe ich bestimmt eine halbe Stunde mit Grimassengesicht dagestanden, und sie haben dann eben das mit mehreren Leuten ständig fotografiert. Dann haben sie es aufgegeben und mich zurück auf die Zelle gebracht, dort hatte sich jemand im Halbdunkel versteckt, mit Kamera im Anschlag.

Gegen 3.30 Uhr war ich dann endlich für mich – irgendwann viel später bin ich in Tränen eingeschlafen. Am nächsten Tag kam gegen Mittag der Bundesanwalt in die Zelle: eigentlich wüßten wir doch ganz genau, daß das, was wir machen, sinnlos ist, wir hätten das in unseren veröffentlichten Texten zugegeben... Es gäbe praktisch keine Resonanz auf alles, was wir geschrieben haben und auf Weiterstadt auch nicht... Die Gefangenengruppe wäre zerstritten... und ehe ich jetzt in deren Situation und mit meiner Perspektive, die eben keine ist... da wäre die einzige Lösung für mich, mich an sie zu wenden. Er war in dieser Ansprache überhaupt nicht zu stoppen – irgendwann habe ich dann gesagt: „Ich habe ein Problem“, da war er sofort still. Ich weiter: nämlich meine Brille und daß das BKA die nicht rausrückt... er hat tatsächlich kurz über die Brille geredet, das war ihm dann aber doch zu blöd, und er ist weg.

Nachmittags bin ich nach Karlsruhe geflogen worden – Haftbefehleröffnung –, dort konnte ich kurz mit meiner Mutter und meinem Bruder sprechen, das war sehr gut. Anschließend haben sie mich nach Preungesheim geflogen, als ich reingebracht wurde, sehe ich jemanden am Fenster stehen und winken und meinen Namen rufen, es war Eva Haule.

Ich konnte ihr noch kurz Hallo zurufen und zurückwinken.

Es gibt zu den Ereignissen noch viel zu sagen – aber nicht heute.“ Birgit Hogefeld